Erzählkunst trifft Psychothriller
Yu-jin lebt trotz seiner 25 Jahre noch immer unter der strengen Aufsicht seiner Mutter. Er ist Epileptiker, hatte bereits schlimme Anfälle und setzt dennoch ab und an die Medikamente ab. Um 21 Uhr muss er abends zuhause sein, doch er strebt nach Freiheit und wandert daher oft nachts durch die Straßen oder am Fährdamm seiner Heimatstadt Gundo entlang, wo er häufig auf die letzten Fahrgäste des Nachtbusses wartet. Eines Morgens erwacht Yu-jin blutverschmiert in seinem Bett. Eine Blutspur führt geradewegs zur Treppe in das Untergeschoss, wo seine Mutter und sein Adoptivbruder Hae-jin wohnen. Offensichtlich ist etwas Schlimmes geschehen, aber an die Ereignisse der vergangenen Nacht kann sich Yu-jin nicht erinnern. Er folgt der blutigen Fährte und entdeckt seine Mutter mit durchgeschnittener Kehle in ihrer Wohnung. Was war geschehen?
Ich lege auf. Noch einmal überlege ich, was ich sagen soll. Etwa, dass ich aufgestanden bin und festgestellt habe, dass meine Mutter tot ist. Dass eine unbekannte Person den Mord begangen zu haben scheint, ich aus unerklärlichen Gründen über und über mit Blut beschmiert bin und auch in meinem Zimmer alles voll Blut ist. Aber auf keinen Fall bin ich der Mörder, bitte glauben Sie mir. Soll ich alles so erzählen? Wird mir die Polizei glauben? Statt der Polizei antwortet Team Weiß: Sag doch gleich, dass Mutter sich die Kehle selbst durchgeschnitten hat.
Yu-jin hat einen Filmriss, die letzte Nacht erscheint ihm nur äußerst bruchstückhaft, doch je länger er über die Situation nachdenkt desto klarer wird ihm, dass er selbst seine Mutter getötet haben muss. Aber warum sollte er dies getan haben? Hae-jin übernachtete ausnahmsweise nicht zuhause, wird jedoch bald zurück sein. In Panik beginnt Yu-jin die Spuren der grausamen Tat zu vernichten. Es gelingt ihm mehr schlecht als recht, jedenfalls wundert sich Hae-jin zunächst nur, dass Mutter nicht zuhause ist, obwohl ihr Wagen in der Tiefgarage steht. Stattdessen überrascht er Yu-jin mit der Frage, ob dieser schon von dem Mord in der letzten Nacht gehört habe?
Mehr Psychostudie denn Spannungsroman
Spannend im Sinne eines Whodunit ist “Der gute Sohn” keineswegs, denn schnell wird klar wer die Mutter ermordet hat. Was es mit dem von Hae-jin angesprochenen Mord auf sich hat und wie dies alles (vorhersehbar) zusammenhängt ist nach gut der Hälfte des Romans bekannt. Nach und nach erzählt der Ich-Erzähler Yu-jin die Geschehnisse, die er sich allerdings teils selber erst erarbeiten muss. Dazu dient ein Tagebuch seiner Mutter, welches ausschließlich ihm gewidmet ist. So wird der Leser immer stärker in die Geschichte eines Psychopathen hineingezogen, der sich zum Serienmörder entwickelt. Anzeichen dafür gab es schon früh, so etwa beim Tod des älteren Bruders, doch diese wurden erfolgreich verdrängt. Stets glaubte seine religiöse und scheinbar vom Kontrollwahn besessene Mutter, Yu-jins Leben in den Griff zu bekommen. Dabei spielte ihre jüngere Schwester Hye-won eine wichtige Rolle, die als Kinderpsychiaterin arbeitet und früh auf strenge Medikation setzte. Doch diese führen zu üblen Nebenwirkungen, Kopfschmerzen und Halluzinationen. Später wird sich zeigen, dass die angebliche Epilepsie nur vorgeschoben war.
Die Welt ist von vielerlei Menschen bevölkert, die ihr Leben leben, wie sie es können. Irgendjemand unter ihnen wird zum Mörder. Aus Gelegenheit, aus Wut oder zum Spaß. Ich dachte bisher, so ist das Leben, und so ist der Mensch. Niemals habe ich jedoch bedacht, dass ich dieser Jemand sein könnte und meine Mutter das Opfer werden würde.
Seine enorme Sogkraft bezieht der Roman aus drei Elementen. Zunächst natürlich aus der Frage nach den Zusammenhängen und deren Ursachen, der enormen Schreibkraft der Autorin, die zeigt, dass ein Thriller gleichzeitig große Literatur sein kann und den intensiven Einblicken in das Innenleben eines Serienmörders. Dadurch, dass Yu-jin als Ich-Erzähler fungiert, wird man intensiv in die Handlung einbezogen und hofft womöglich sogar, dass es noch eine Lösung, ein Entkommen für ihn geben wird. Das bitterböse Ende ist großes Kino!
Die Faszination des Bösen, tiefe Einblicke in verschiedenste menschliche Abgründe und ein fast unausweichlich entstehender, tödlicher Kreislauf sind Ingredienzien dieses vorzüglichen Romans der hochgelobten südkoreanischen Topautorin. Jeong Yu-Jeong beweist in ihrer Heimat, dass sich Qualität und Erfolg nicht ausschließen müssen; vielleicht ja auch demnächst bei uns.
Cover © Unionsverlag
- Autor: Jeong Yu-Jeong
- Titel: Der gute Sohn
- Originaltitel: Jong-ui Giwon
- Übersetzer: Kyong-Hae Flügel
- Verlag: Unionsverlag
- Erschienen: 01/2019
- Einband: Hardcover
- Seiten: 313
- ISBN:978-3-293-00541-9
- Sprache: Koreanisch
- Sonstige Informationen:
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