Was ein selbsternannter Retter der Welt im Bundestag so erlebt – Einblicke in den politischen Betrieb und mehr
Literatur ist eine wunderbare und einfache Möglichkeit, gedanklich in ferne Welten einzutauchen oder sich für eine gewisse Zeit in andere Persönlichkeiten hineinzuversetzen. Insbesondere bei der Lektüre von Romanen kann man sich in jemanden einfühlen, der einem in der Wirklichkeit eher fremd ist. Ebenso kann ein Sachbuch helfen, für andere Menschen und unterschiedliche Denkweisen Verständnis zu entwickeln. Der selbsternannte Retter der Welt – so das Versprechen an seine Tochter – Philipp Möller zeigt dies in seinem Buch.
Aufgrund des erbarmungswürdigen Zustandes ihrer Schultoiletten bringt seine Tochter den Autor dazu, ihr nichts weniger als die Rettung der Welt zu versprechen. Und wo könnte dies besser geschehen als im Deutschen Bundestag?
Um das Entscheidungszentrum der deutschen Demokratie erstmal kennenzulernen, entschließt sich Philipp Möller zu Kurzpraktika bei Abgeordneten verschiedener Fraktionen. Bei seiner ersten Station, dem Büro eines Berliner SPD-Abgeordneten, wird ihm vor allem klar, was Abgeordnete jenseits der Plenardebatten tun und wie wichtig scheinbar unbedeutende Termine im Wahlkreis vom sprichwörtlichen Kaninchenzüchterverein bis hin zur Parteiversammlung „im Sportvereinshaus Hinterpöslingen“ sind. Gerade an solch unspektakulären Orten werden Politiker und Politik greifbar für Menschen, die sich damit nicht täglich oder gar beruflich beschäftigen.
Möller, der sich offenbar im linksliberalen Spektrum verortet, zeigt sich als unerschrocken und sucht bewusst den Kontakt zu Abgeordneten, die ihm politisch nicht nahestehen. So scheut er sich nicht, einige Tage einen jungen AfD-Abgeordneten zu begleiten und sich auch in deren fraktionsinternen Arbeitskreisen, in denen sich Abgeordnete zu bestimmten Themen austauschen und abstimmen, deutlich zu Wort zu melden. Auch die Tage mit Lukas Köhler, dem klimapolitischen Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, werden für den Autor nicht ganz folgenlos bleiben. Seine Skepsis gegenüber dieser Partei, die für ihn zunächst nicht wirklich an einem wirksamen Klimaschutz interessiert zu sein scheint, äußert er seinem neuen Chef gegenüber deutlich. In der Darstellung der internen Abläufe (von der Arbeitsgruppe Umwelt zum größeren Arbeitskreis für mehrere Themen bis hin zur Sitzung der gesamten Fraktion, um deren Vorschläge für den entsprechenden Ausschluss zu beschließen) schildert der Autor anschaulich, dass Politik eben nicht nur aus öffentlichkeitswirksamen Debatten besteht, sondern auch hier wieder aus den Mühen der Ebene. So folgen viele kleine Schritte und Abstimmungen aufeinander, bis überhaupt mal konkrete Vorschläge artikuliert werden.
Als letzte Station schaut sich der Autor die Farbe Grün näher an. Das Praktikum bei der klimapolitischen Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion Lisa Badum gibt ihm Anlass zum Nachdenken. Im Büro einer grünen Abgeordneten, deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihm allesamt politisch und persönlich so sympathisch erscheinen, fallen kritische Nachfragen doch deutlich schwerer als zuvor bei der AfD.
In dieser Zeit kommt er auch in Kontakt mit Vertreterinnen der Bewegung Fridays for Future. Passend dazu heißt ein Kapitel „Todesangst im Bundestag“. Er teilt einerseits das Anliegen dieser Bewegung, andererseits irritiert ihn die zum Teil apokalyptische Herangehensweise mancher ihrer Protagonisten. Von der (grünen) Umweltausschussvorsitzenden wird eine Fridays-for-Future-Vertreterin auch gleich darauf aufmerksam gemacht, dass es in einem demokratischen Parlament ein breites Spektrum an Positionen gibt und diese „Tag für Tag aufs Neue“ ausgehandelt werden müssen. „Du kannst hier nicht hereinspazieren, deine Forderungen stellen und erwarten, dass alle sofort umgesetzt werden (…)“. Als Möller die Aktivistin Luisa Neubauer darauf anspricht, warum sie ihre Forderungen gern im apokalyptischen, hochmoralischen Ton vorträgt und inwieweit sich diese mit Aspekten der Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit von Energie vereinbaren lassen, scheint sie von solchen Aussagen eher überrascht zu sein. Statt hier zu argumentieren, wird Möller noch von einem ihrer Begleiter gefragt, ob er bei der AfD sei.
Diese Konfrontation steht beispielhaft für den vom Autor diagnostizierten „Empörialismus“: Viele Menschen reagieren heutzutage bei gegenläufigen Auffassungen vor allem mit Empörung und sparen sich das Argumentieren. Jedoch lebt ein demokratischer Diskurs von der (anstrengenden) Diskussion, in der verschiedenste Standpunkte – und diesseits der Verfassungswidrigkeit existiert nachweislich ein äußerst breites Spektrum an Meinungen und Perspektiven – geäußert werden und man sich mit ihnen zunächst auseinandersetzt. Im Idealfall ist dies noch verbunden mit der Überlegung, dass politische Gegner möglicherweise recht haben könnten.
In der heutigen Zeit werden politische Standpunkte gern moralisch aufgeladen und mitunter dermaßen überhöht, dass ein gegensätzlicher Standpunkt nicht nur als sachliche Gegenposition, sondern gleich als Angriff auf die moralisch richtige Seite betrachtet wird. Labels ersetzen dabei gern die Argumente, die Bandbreite reicht von linksgrünversifft bis hin zu Nazis. Eine lebendige Diskussion ist so nicht möglich, stattdessen herrscht Gesprächsunfähigkeit vor. Möller zeigt dies auch am Beispiel von hysterisch geführten Debatten über alles, was mit Religion und insbesondere mit dem Islam zu tun hat. In einer Ecke werden Muslime grundsätzlich mit Dschihadisten und Fanatikern gleichgesetzt, in einer anderen wird jede Kritik an religiös begründeten Phänomenen sofort als eine Art Rassismus abgestempelt. Über die Sache selbst (z.B. patriarchale Rollenbilder, die es zugegebenermaßen in verschiedenen Kulturen gibt) wird dann jedoch nicht mehr gesprochen.
Am Ende erhält der Autor vom Abgeordneten der Partei, der er (neben der AfD) zunächst am skeptischsten gegenüberstand, das Angebot, für ihn zu arbeiten. Ob Möller nun selbst seine Sympathien für die FDP entdeckt, sei dahingestellt. Er stellt sich und liebgewonnene eigene Positionen jedoch im Laufe seiner Arbeit im Parlament in Frage. Neben den Informationen über den politischen Betrieb ist es gerade diese Nachdenklichkeit, die im besten Fall auch die Leser anregt, Ähnliches zu tun.
Viele Menschen gehen mit festgefügten Standpunkten durchs Leben und wagen es viel zu selten, diese auch in Frage zu stellen und vielleicht gar zu verändern. Und nicht zuletzt die Annahme, dass ein politischer Gegner für sich grundsätzlich berechtigte Positionen vertritt und vielleicht auch mal recht haben könnte, ist heutzutage leider selten geworden, aber letztlich Voraussetzung für einen demokratischen Diskurs.
Wer bereits über Einblicke in den parlamentarischen Betrieb verfügt, wird hier nur teilweise Neues lesen, kann aber dennoch Gewinn aus der Lektüre ziehen. Dies liegt am flüssig erzählten Reflektionsprozess des Autors, an dem er die Leser teilhaben lässt. So wie manche Romane ihre Leser verändert zurücklassen, so bietet auch dieses Sachbuch aufgeschlossenen Lesern einen Anlass, vielleicht auch den einen oder anderen liebgewonnen Standpunkt in Frage zu stellen und kritisch zu überprüfen. Vor allem diese Erkenntnis des Autors macht das Buch trotz einiger kleiner Fehler (z.B. bei nicht ganz korrekten Ortsangaben und Namen von Plätzen) interessant und aufschlussreich.
- Autor: Philipp Möller
- Titel: Isch geh Bundestag. Wie ich meiner Tochter versprach, die Welt zu retten
- Verlag: S. Fischer
- Erschienen: Oktober 2019
- Einband: Paperback
- Seiten: 336
- ISBN: 978 -3-596-29882-2
- Sonstige Informationen: Produktseite beim Verlag
Wertung: 12/15 dpt