Wer sich solche Typen wie David Cameron oder Boris Johnson anschaut, wird wahrscheinlich schnell zu dem Ergebnis kommen, dass ein gewisses geistiges Niveau schon von Nöten ist, um ein Land zu regieren. Vor allem ein Land, das etwas mehr sein will als nur eine weitere Nordseeinsel. Das perfekte Akronym für Politiker dieser Art haben Marillion mit ihrem Konzeptalbum F.E.A.R. geliefert – ‘fuck everyone and run’.
Ganz ähnlich sieht das auch der inzwischen vielfach ausgezeichnete englische Autor John Lanchester. In seinem aktuellen Roman ‘Die Mauer’ reicht alleine diese Vokabel ein ganzes Panoptikum politischer Gruselkabinette aufzurufen. Seinen Roman setzt er vermeintlich in der Zukunft an. Es gilt in Großbritannien das Gesetz des Stärkeren, des Lautesten. Das Land hat eine hohe, wehrhafte Mauer erbaut, um sich effektiv gegen Eindringlinge zu schützen. Dabei helfen natürlich auch die Bewohner ‚Großbritanniens‘.
Einer von ihnen ist der Protagonist von ‘Die Mauer’, Joseph Kavanagh. Er gehört zu denjenigen, die die Mauer nicht nur unter Einsatz ihres Lebens verteidigen. Der Preis, den er zahlt, ist das offenbar so gesunde Misstrauen seiner eigenen Landsleute: Schaffen es Eindringlinge in das Land, werden diejenigen, die ihren Verteidigungsdienst schoben, dem Meer überlassen.
Es ist eine Welt von allzeit drohender Gefahr, von Außen aber eben auch von innen. Lanchester verquickt dieses Drama mit einer schier ausweglosen Liebesgeschichte, die dem Protagonisten nicht nur Kraft gibt, sondern – natürlich – auch zusätzliches Konfliktpotenzial in sich birgt.
Flüchtlingsströme, Brexit, Klimaerwärmung, gesellschaftliche Spannungen und eine Hysterie, die sich Wagyu-gleich einmassiert durch die gesamte britische Bevölkerung zieht: All diese Elemente flicht Lanchester virtuos in ein stimmiges Plotting ein. Es geht um alles oder nichts, Liebe, Vertrauen, Hass. Und der Autor weiß ganz genau, dass dies glaubhaft nur unter konsequenter Vermeidung von Rechthaberei gelingen kann.
‘Die Mauer’ ist kein Thesenroman, kein politischer Kommentar zu den Vorgängen auf der Insel inmitten der Nordsee. Vielmehr gelingen ihm eindrückliche Szenen durch den bewussten Einsatz von Sarkasmus, Ironie und gezielter, erkennbarer Übertreibung.
Zugegeben: Die Figurenzeichnung bleibt ein wenig auf der Strecke. Das sind zu großen Teilen eher Pappkameraden. Allerdings scheint auch das poetologisch einer stringenten Logik zu folgen. Neben Joseph Kavanagh ist die Mauer die heimliche Hauptdarstellerin. Sie ist es, die die Bevölkerung Großbritanniens nicht nur vor illegaler Immigration, sondern auch vor dem unweigerlich steigenden Meeresspiegel retten soll. Gleichzeitig „schützt“ sie ihre Bewohner vor dem Blick nach Außen, über den Tellerrand.
Die Metapher der Mauer funktioniert als Leitmotiv. Lanchester gelingt mit ihr die Tristesse, die inzestuösen Degenerierungen geschlossener Gesellschaften – gerne auch im Sartreschen Sinne zu verstehen, zu beschreiben.
Damit gehört John Lanchesters Roman ‘Die Mauer’ zu den beeindruckenden literarischen Veröffentlichungen des ersten Halbjahres 2019, die sicherlich nachhallen werden. Vermisst werden darf jedoch eine tragbare utopische Perspektive in diesem durch und durch dystopischen Roman. Das jedoch ist nur ein eher kleiner Schönheitsfehler eines sehr unterhaltsamen, relevanten Romans.
Cover © Klett-Cotta
- Autor: John Lanchester
- Titel: Die Mauer. Aus dem Englischen von Dorothee Merkel (Original: The wall)
- Verlag: Klett Cotta
- Erschienen: 2019
- Einband: gebunden mit Schutzumschlag
- Seiten: 348
- ISBN: 978-3-608-96391-5
- Sonstige Informationen: „Die Mauer” bei Klett Cotta
Erwerbsmöglichkeiten
Wertung: 11/15 Dioptrien
Stimme zu, aber meinen Sie wirklich James Cameron, den Regisseur – oder doch David Cameron, den Politiker
Ertappt – bekenne mich schuldig im Sinne der Anklage, wobei es vielleicht bezeichnend ist, dass ich Mr David C. soweit verdrängt habe. Wird geändert