In Berlin finden an jedem Abend der Woche zahlreiche Lesungen statt, bei denen die Autoren selbst oder auch Schauspieler aus Büchern lesen. Bei so manchen Autorinnen oder Autoren wird klar, dass sie doch besser schreiben als vorlesen, andere beherrschen beides, wiederum andere erzählen frei über die Geschichte des Buches und darüber hinaus. Und mitunter erfährt man bei einer Diskussion zwischen Autoren und Besuchern mehr über deren Arbeit und Werk.
Die Ankündigung für die Lesung des Autors Hans Christoph Buch aus seinem neuesten Buch „Tunnel über der Spree – Traumpfade der Literatur“ machte neugierig: „Mit Humor und Witz führt er die LeserInnen ins Ost- und ins West-Berlin der 1960er und 1970er Jahre (…) und lässt eine außergewöhnliche Zeit in all ihrer Zwiespältigkeit und Farbigkeit wiederaufstehen“.
Die Veranstaltung im Buchhändlerkeller in Berlin-Charlottenburg am 25. April 2019 verlief dann anders als erwartet, interessant ganz sicher – jedoch weniger literarisch denn als Sozialstudie. Als der Autor den einen Freund, dann die andere Freundin nacheinander persönlich begrüßte, war zunächst nicht klar, ob es sich um eine öffentliche Veranstaltung oder den privaten Salon eines erlauchten Kreises handelte, bei dem nur die nicht dazugehörenden Gäste Eintritt bezahlt hatten und dafür geduldet wurden. Der Autor vermochte es nicht – zumindest lässt sich das für die vorgelesenen Ausschnitte sagen -, die Atmosphäre des nicht mehr existierenden West-Berlins zu beschreiben, stattdessen erging er sich in Andeutungen und zum Teil purem Namedropping. Dies begann schon beim Titel, der auf einen im 19. Jahrhundert geplanten Tunnel unter der Spree und ein Fontane-Zitat zum „Tunnel über der Spree“ anspielte, jedoch hielt der Autor es nicht für nötig, dies den nicht kundigen Besuchern („Sie wissen schon (…) ich muss das nicht näher ausführen.“) näher zu erklären.
Auch als halbwegs belesener und informierter Mensch waren mir nicht alle genannten Namen geläufig (Grass natürlich schon, Lettau hingegen nicht). Der Autor gab die eine oder andere Episode zum Besten und war leider nicht in der Lage, die Personen und die Atmosphäre früherer Zeiten zu beschreiben. Stattdessen auch hier wieder Andeutungen und Anspielungen, bei denen manche andächtig nickten, andere aber nicht alles verstanden – nur störte das den Autor nicht. „Und so bezeichnete er die Obdachlosen auf der Parkbank als Philosophen … wie Diogenes in der Tonne … Sie wissen schon.“ Gerade der letzte Satz steht symptomatisch für die Haltung des Autors.
Ein Großteil des Publikums trauerte längst vergangenen Zeiten und Örtlichkeiten („damals im Tegernseer Tönnchen… gibt es ja alles nicht mehr …“) hinterher und erging sich schwelgerisch darin. Ist es zu viel verlangt, gerade für später Geborene – zumal die Lesung ja in der Stadt stattfand, die im Buch beschrieben wurde – kurz zu nennen, wo sich diese eine Kneipe befand und wer dieser heute nicht mehr ganz so bekannte Schriftsteller war?
Aber nicht doch, hier blieb das gediegene West-Berliner-Bildungsbürgertum vergangener Tage unter sich und sinnierte möglichst ungestört über verflossene Zeiten. Als Beobachtung eines Milieus, dessen Angehörige in dieser Häufung im Alltag eher selten anzutreffen sind, erfüllte die Veranstaltung einen Zweck, über das Buch und seinen Inhalt erfuhr man hingegen kaum etwas und wurde auch nicht wirklich neugierig darauf.
Auch für Menschen, die die Teilung Berlins nicht mehr oder nur noch für kurze Zeit erlebten, kann es von Interesse sein, wenn Schriftsteller die Atmosphäre West-Berlins der 60er bis 80er Jahre wieder lebendig werden lassen. Tanja Dückers gelang dies in ihrem Buch „Mein altes West-Berlin“ ebenso wie Elke Kimmel in „West-Berlin. Biographie einer Halbstadt“.
In Zeiten, in denen oft beklagt wird, dass weniger Menschen Bücher lesen, würde man vermuten, dass Autoren und Verlage verstärkt versuchen, Nicht- oder Wenigleser anzusprechen. Gerade eine Lesung kann hier die Neugier wecken, mehr über das eben Vorgelesene zu erfahren und weiterzulesen.
Abschreckend wirkt es eher, wenn ein kleiner, elitärer Zirkel sich in Namedropping und Erinnerungen an alte Zeiten regelrecht suhlt, ohne für Nachgeborene zu erklären oder auch nur zu erzählen, was denn das Besondere an dieser Zeit war. Ein Kulturbetrieb, der sich selbst genügt und sich an der eigenen Bildung regelrecht ergötzt und interessierte Menschen dadurch – auch wenn es vielleicht gar nicht böse Absicht ist – ausschließt, braucht sich nicht zu wundern, wenn sich das Interesse in Grenzen hält.
Zum Glück ist die Literatur- und Kulturlandschaft in Deutschland und insbesondere in Berlin breit und vielfältig genug, um auch andere Veranstaltungen zu bieten, die neugierig machen und durch Kunst und Literatur die Möglichkeit geben, sich in andere Menschen und Zeit hineinzuversetzen. Also mehr als tausend Leben leben zu können, ohne mehr als den einen Tod sterben zu müssen.
- Hans Christoph Buch – Tunnel über der Spree. Traumpfade der Literatur
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main. 251 Seiten.
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