Reise nach Jerusalem (Spielfilm, DVD)


Kurz vor der diesjährigen Europawahl ist bekanntlich bereits manch ein Werk im Namen der Kunstfreiheit veröffentlicht worden, das abseits der bekannten Wahlwerbung durch seine Radikalität entweder von der Politisierung oder von der Polarisierung beziehungsweise Polemisierung der Gesellschaft zeugt. „Reise nach Jerusalem“ ist nun ebenfalls ein Release kurz vor dieser hochgejazzten Wahl vergönnt, dabei fällt der Debütfilm der italienischen Regisseurin mit deutscher Identität, aber nicht annährend so aufrührerisch aus wie die Ibiza- und youtube-Videos dieser Tage. Allerdings hätte dem Sozialdrama mit tragikomischer Handschrift neben einer feineren Verzahnung der Inhalte mehr Mut zu unbequemen Fragen durchaus gutgetan, denn so bleibt die berechtigte Kritik an der schönen neuen Arbeitswelt in Verbindung mit sozial- und wohnpolitischen Fragen eine recht zahme Aneinanderreihung von Argumenten aus dem linken Forderungskatalog. Aber auch das ist eine interessante Beobachtung zur aktuellen politischen Lage und der mangelnden Strahlkraft linker Politik.

Dass wir in bewegten politischen Zeiten leben, lässt sich schon allein daran ablesen, in welch ungekannter Schnelligkeit Themen auf die politische Agenda gesetzt werden. Neben dem Klimawandel als das Thema, das von den WählerInnen erst seit wenigen Monaten als am wichtigsten eingestufte Anliegen in Deutschland und Europa wird, sind es vor allem die sozialpolitischen Fragen, in denen verzweifelt Gegenmaßnahmen zum Rechtsruck gesucht werden. Die auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich, zwischen Stadt und Land, West und Ost, in Europa zwischen Süd und Nord, Mietpreissteigerungen, Prekarisierung der Arbeit, Digitalisierung, all diese Entwicklungen nagen am sozialen Frieden, der Gerechtigkeit, der Solidarität, dem oft beschworenen „Kitt, der Gesellschaft zusammenhält“.

Auch die starke Fokussierung künstlerischen Schaffens auf Berlin ist Ausdruck einer problematischen Zentrierung internationaler und vor allem nationaler Ressourcen unter Vernachlässigung aller anderen deutschen Gebiete, doch in diesem Fall ist es in Ordnung, dass „Reise in Jerusalem“ in der Bundeshauptstadt spielt. Alice (Eva Löbau) fühlte sich seinerzeit von den Möglichkeiten der Stadt inspiriert, die sie Kreativen mit ihrer Kompaktheit, ihren günstigen Mieten, der starken Vernetzung, ihrer Multikulti-Ausrichtung und der Freiheit bot. Doch mittlerweile ist die studierte Germanistin 39 Jahre alt, arbeitet als „Freelancerin“, als „Texterin“ und „Redakteurin“ und findet trotz einiger Fortbildungen kaum Kunden. Um über die Runden zu kommen, bezieht Alice Stütze vom Amt, die diese im Hartz IV-Zeitalter verbindlich an Maßnahmen zur Überprüfung der Bereitschaft zur Anpassung an den Arbeitsmarkt (inklusive sinnentleerter, weil aufgedrückter und allgemein gehaltener Seminare) knüpft.

Auch ein Umzug wird Alice mal ans Herz gelegt, ein Neustart in einer anderen Stadt, sie sei doch ohne Mann und Kind flexibel, doch für die Enddreißigerin wirkt das unzumutbar. Sie habe sich schon genug flexibilisiert, verbogen, warum von dort wegziehen, wo sie sich wohlfühlt, Freunde hat, nah bei den Eltern wohnt, nur um Geld zu verdienen, nur um Arbeit zu bekommen? Erfolgreiches Studium, Berufserfahrung, Weiterbildungen und trotzdem reicht es nicht für den Arbeitsmarkt. Für Regisseurin Lucia Chiarla liegt der Fehler im System, was angesichts der mannigfaltigen Herausforderungen der Gegenwart in Teilen durchaus zutrifft. Alice erfährt sich als Teil des Prekariats, derjenigen Gruppe, die sich mit der stetigen Unsicherheit ihrer Arbeitssituation konfrontiert sieht.War der Begriff zuvor fast vollständig mit dem Proletariat, also mit der von einem niedrigen Bildungsgrad geprägten Arbeiterschaft, in Deckung zu bringen, kommen seit einigen Jahren immer mehr HochschulabsolventInnen dazu. Der Arbeitsmarkt hat sich rasant gewandelt und reagiert mit einer umfassenden Flexibilisierung auf die Anforderungen des Kapitalismus. Selbständigkeit und Zeitverträge sind für junge Menschen in einigen Branchen zum Normalfall geworden und so steht auch Alice unter einem immensen Leistungsdruck. Dass sie den Anforderungen nicht genügt, macht sie zu einem Mängelwesen, das sich Tag für Tag aufraffen muss, um an ihrem brachliegenden Selbstbewusstsein zu feilen. Ihr fehlt es an Arbeit, was die Lage schon prekär genug macht, hat sich an den ursoziologischen Erkenntnissen der negativen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit nichts geändert.

Neu ist allerdings, wie sehr sich Menschen mit ihrer Arbeit identifizieren und ihr Leben für eine möglichst große Produktivität umkrempeln. Die Freunde haben immer seltener Zeit, weil sie erfolgreich sind. Für Alice, eine unsichere, aber stolze Frau, die zunächst nicht um Geld und Jobs betteln will, ist das deswegen unerträglich, weil sie zunehmend weniger am Zusammenleben teilnehmen kann. Kulturabende mit Freunden, Partys, das Leben in der eigenen kleinen Wohnung und selbst der vernünftige Einkauf im Biosupermarkt werden immer mehr zum Luxus, wobei es doch einfach nur das durchschnittliche Leben sein sollte. Oder kurz: Wem nutzt Berlin, wenn alle nur arbeiten oder arbeitslos sind, aber niemand lebt? Chiarla gelingt darin der anschauliche Einstieg in das Thema relative Armut, der in den Debatten häufig hinter dem vermeintlich dringlicheren Problem der „Hartz IV-Schnorrer“ verschwindet.

Alices Identität zerbröselt hinter der Maske, mit der sie Arbeitsamkeit vortäuschen muss, gegenüber ihren Freunden und Bekannten hat sie nämlich immer „ein paar Kunden“, bis dann in der Abwärtsspirale begriffen schließlich auch die Fassade anfängt zu zerfallen. Sie ist nicht so attraktiv wie die anderen, weder was das Aussehen noch was den Erfolg angeht. Eva Löbau, die Kommissarin aus dem Schwarzwald-Harald Schmidt-Tatort, verkörpert das herausragend, weil sie Alice als Sympathieträgerin spielt, der es an vielen Stellen einfach an etwas mangelt, nur weil sie durchschnittlich ist. Allerdings verstellt diese Lesart des Films auch ein wenig den Blick auf weitaus unbequemere Fragen, denn Lucia Chiarla interessiert sich so sehr für die Umständen, die ihre Hauptfigur verformen, dass die individuelle Ebene zu kurz kommt. Der Druck scheint so groß zu sein, dass Alice sich gehen lässt und als studierte Germanistin regelmäßig fehlerhafte Bewerbungsschreiben verschickt. Es wäre dabei durchaus von Interesse gewesen, die Unzulänglichkeiten der Charaktere zu thematisieren, denn auf die angebrachte Frage, ob Alice überhaupt gut in ihrem Job ist, finden die Zuschauenden keinerlei Antworten, weil es schlichtweg nicht gezeigt wird. Denn auch in dieser Erkenntnis könnte ein Weg zum Glück aufgezeigt werden, denn es ist nicht ganz klar, ob auf dem Arbeitsmarkt die Stühle weniger werden, ob sich das „Reise nach Jerusalem“-Spiel nicht einfach ein ganz anderes geworden ist.

Zwar zeigt „Reise nach Jerusalem“, dass Alice in der sich immer schneller drehenden und an ihr vorbeiziehenden Welt irgendwann den Absprung ins Erwachsenenleben verpasst haben muss, weswegen der Film durchaus als Schreckensvision für all die studentischen Hipster wirken kann, die sich gerade ohne Plan nach Berlin ziehen lassen. Doch dass sie sich immer noch nicht ganz von den Eltern abgenabelt hat und sich in einem pubertären Anfall betrunken die Haare färbt, konstruiert Chiarla als weitere Facette der umfassenden Opferrolle, in die Alice gesteckt wird. Adornos „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ wird bemüht, doch die dazugehörigen Themen wie der Wert des Geldes gegenüber allen anderen Tauschgütern (in diesem Fall Benzingutscheine), dem Fehlen von konsumfreien Räumen und der Frage, wem die Stadt gehört, werden zwar angeschnitten, aber nicht ausreichend bearbeitet. Das wären die Gebiete, in denen Antworten zu finden sind, wie Alice an ein normales Leben kommt, doch Lucia Chiarla beschränkt sich auf die Arbeit, die korrumpieren kann, wogegen sich Alice letztendlich auch zur Wehr setzt. Doch dadurch, dass „Reise nach Jerusalem“ nicht an den Grundpfeilern des Systems ansetzt, fehlt auch die Frage, warum Alice überhaupt so naiv mitmacht.

Leider ist dem Film auch anzumerken, dass es sich um ein Debütwerk handelt. Immer wieder versucht Lucia Chiarla das raue Sozialdrama mit Herz, Witz und Magie aufzulockern, doch nur selten gelingt es ihr mit Slapstick-Einlagen, humorvoll konstruierten Situationen und magischen (Alp-)Traumszenen „Reise nach Jerusalem“ zu mehr als einem bemühten Spielfilm zu machen. Es fehlt zudem der Feinschliff, der vermieden hätte, dass die Szenen allzu episodenhaft entlang von Themen arrangiert sind. Auf einmal geht es beispielsweise um Prostitution, was sicherlich mit dem Themenkomplex der Arbeitslosigkeit zu tun hat und zeigt, dass Alice sich moralisch relativ standhaft bleibt, aber eine tiefergehende Aussage, als dass ein Abhängigkeits- und Ausnutzungsverhältnis zu den besser Verdienenden besteht, lässt sich daraus nicht ableiten.

Immerhin sitzt zum Schluss die Kritik an der „Ich will raus“-Kultur dieser Tage, mit denen sich dieser Tag auch SUVs verkaufen lassen. Lucia Chiarla pocht darauf, dass das planlose Rauswollen, das Hintersichlassen und Neuanfangen nicht per se die Lösung sein kann. Warum nicht an dem arbeiten, was da ist und was einen eigentlich glücklich macht? Warum sich also vom Arbeitsmarkt diktieren lassen, was man gut zu finden hat? Aber genau das ist Krux, mit der linke Politikstile zurzeit zu kämpfen haben. Das gesellschaftliche Zusammenleben ist dermaßen vermarktet, dass die materiellen Vorzüge und der relative Friede das Ausprobieren neuer, sozialerer Praktiken verhindern. „Was kostet das?“ und „Gefährdet das den Status Quo?“ statt „Wie können und wollen wir in Zukunft leben?“. Ein Großteil der Gesellschaft weiß, was besser wäre, aber tut es nicht. Die Antworten müssen vor der eigenen Haustür erprobt werden und zwar so schnell wie möglich. Alice handelt danach und würde bei der Europawahl sicher das passende Kreuzchen setzen, aber als Symbolfigur für den Aufbruch taugt sie kaum, dafür ist sie leider viel zu sehr in der Opferrolle verloren.

Fazit: Lucia Chiarla spricht mit ihrem Debütfilm „Reise nach Jerusalem“ im Namen der linken Politik die richtigen Themen an, doch allzu oft bleiben sie nur angeschnitten. Das beginnt mit der Hauptfigur Alice, die von Eva Löbau herausragend als stolze, aber auch naive und unfertige Frau gespielt wird, die zwar allen Grund hat, sich von der Gesellschaft über den harten Arbeitsmarkt angegriffen zu fühlen und sich gefährlicherweise als Mängelwesen zu verstehen. Doch allzu sehr überwiegt die Darstellung der Enddreißigerin als sympathisches Opfer des Systems, wogegen sie sich zwar auf ihre Weise wehrt, aber wie wir und wie sie an den Verhältnissen rütteln kann, bleibt nur am Rande erwähnt. Vielleicht ist das das Problem der linken Ideologie, an die hohe Maßstäbe in Sachen Funktionsweise und Sicherheit angelegt werden, bevor ihr überhaupt gestattet wird, die Maßnahmen auszuprobieren. Aber das lenkt nicht davon ab, dass Chiarla zwar einen bemühten und im Kern berechtigten Film vorlegt, dem aber sowohl handwerklich als auch thematisch mehr Rafinesse und Radikalität gutgetan hätte.

Cover und Szenebilder © Filmperlen

  • Titel: Reise nach Jerusalem
  • Produktionsland und -jahr: D, 2018
  • Genre:
    Drama
    Tragikomödie
  • Erschienen: 17.05.2019
  • Label: Filmperlen
  • Spielzeit:
    ca. 118 Minuten auf 1 DVD
  • Darsteller:
    u.a.
    Eva Löbau
    Veronika Nowag-Jones
    Axel Werner
    Beniamino Brogi
  • Regie: Lucia Chiarla
  • Drehbuch: Lucia Chiarla
  • Kamera: Ralf Noack
  • Schnitt: Aletta von Vietinghoff
  • Musik: Tobias Vethake
  • Extras: Trailer
  • Technische Details (DVD)
    Video:
    16:9 (1,77:1)
    Sprachen/Ton
    :
    D
    Untertitel:

  • FSK: 6
  • Sonstige Informationen:
    Produktseite

Wertung: 7/15 dpt


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