Touch Me Not (Spielfilm, DVD)


„Skandalfilme“ ziehen ihren Reiz ja bekanntermaßen aus dem gepflegten Tabubruch. Auch in der Hinsicht, dass „Touch Me Not“ bei Weitem nichts Verbotenes zeigt, ist der Film in der sich immer weiter aufheizenden Empörungskultur „richtig“ einkategorisiert worden. Und wie es mit guten Filmen so ist, deckt auch der vorliegende die Wut des Zuschauenden darüber auf, dass eine subjektive Grenze erreicht ist, an der sich gegen den Tabubruch durch Veröffentlichung gewehrt werden muss, obwohl das Wort „gewöhnen“ viel angebrachter wäre. Regisseurin Adina Pintilie experimentiert auch mit den Grenzen der Realität und des Filmischen, scheitert zum Teil und muss dies sogar, doch am Ende strahlt in dieser Erfahrungsreise über Liebe und Sexualität die zutiefst menschliche Message: Berührt euch! Und wenn auch nur an euren Seelen!

Nun war der Gewinn des Goldenen Bären schon mal mit mehr Prestige verbunden als dieser Tage, in denen die Berlinale-Wettbewerbe zusehends an Qualität einbüßen, doch mit „Touch Me Not“ wählte die Jury um Präsident Tom Tykwer 2018 zumindest zurecht einen mutigen Film aus. Für Regisseurin Adina Pintilie ist es eine besondere Ehre, wird sie doch gleich für ihren ersten „Spielfilm“ ausgezeichnet, mit dem sie im wahrsten Sinne des Wortes keine Berührungsängste zeigt. Die Rumänin, die sich zuvor unter anderem mit den Realitäten in Psychiatrien filmisch auseinandersetzte, geht auch mit „Touch Me Not“ auf Tuchfühlung mit Menschen am Rande der Gesellschaft.

Zu Beginn wird eine Kamera aufgebaut, dann eine Art Monitor direkt davor und sobald dieser abgedunkelt ist, erscheint die Regisseurin auf ihm. Mit dieser Teleprompter-Technologie wird den anschließend Interviewten und den Zuschauenden der Eindruck vermittelt, dass direkt mit der Filmemacherin gesprochen wird. Es wird nicht die einzige Grenze der Subjektivität sein, die Pinitilie mit ihrem Film aufweichen lässt und durchlässig macht. „Touch Me Not“ erforscht dieses wilde, ausgefranste Grenzgebiet, in denen Spielfilm und Realität, Fiktion und Realität sich nicht voneinander trennen lassen. Es gibt HauptdarstellerInnen wie Laura Benson und Tómas Lemarquis, die zwar schauspielern, die aber doch auch immer wieder in Situationen geworfen werden, in denen der Kontakt mit „realen“ Personen das Schauspielsetting hinterfragt wird.

Rund um die beiden SchauspielerInnen entwickelt sich dann auch einer aus relativ freien Experimenten und Improvisationen geformter Plot. Laura ist eine Frau, geschätzt irgendwo in ihren 50ern mit einem gestörten Verhältnis zu ihrer eigenen Sexualität. Wie sie in einem Versuch der Öffnung gegenüber der Kamera, der Regisseurin, der Öffentlichkeit zeigt, kann sie einem Callboy beim Masturbieren zusehen, ihn zu berühren, stellt für sie jedoch eine unüberwindlich scheinende Herausforderung dar. Tómas hingegen gehört einer Selbsthilfegruppe an, die im Tandempartnerkonzept ihre jeweiligen Andersartigkeiten unter dem Überthema der Sexualität im Dialog erforschen sollen. Während er selbst keinerlei Behaarung aufweist, ist sein Partner Christian ein Behinderter mit komplex deformiertem Körper. Irgendwann beobachtet Laura Tómas, es mutet wie Stalking an, dabei handelt es nur ein erotisches motiviertes Interesse, das von einer übermächtigen Hemmung vom Umschlagen in die Performanz gehindert wird.

Dieser Weg wird begleitet von einer spannenden Reise zu den noch immer bestehenden Tabus der menschlichen Sexualität. Tómas schafft es irgendwann, seine Berührungsängste abzulegen und Christians Körper distanziert zu erforschen. Ehrlicherweise gesteht er, dass es für ihn nicht einfach ist und sich ein Widerstand in ihm regt, er jedoch erkannt habe, dass dieser sich nicht gegen das Eindringen des Anderen sträubt, sondern gegen das Herauskommen des Inneren, des Eigenen. Christian dankt ihm für eine dieser klugen Einsichten, für die der Film als Plattform dient, und kontert ebenso intelligent: Er wünsche sich nur eins, nämlich Ehrlichkeit. Es ist der spannendste Tabubruch des Films, da der Umgang mit Behinderten generell schwerfällt. Doch der Schlüssel liegt in der Nähe, schließlich der Sexualität, denn nur dann kommt einem langsam über die Lippen: Der behinderte Mensch.

Andere Tabubrüche mögen für das Mainstream-Kinopublikum welche sein, wirklich neue Facetten zeigt er aber höchstens in Lauras Szenen mit einem SM-Dienstleister, der die therapeutische Seite seiner Methoden aufzuzeigen weiß. Es geht demnach nicht nur um das Ausprobieren von extremen Perversitäten, wofür die Aktiven in diesem Bereich häufig stigmatisiert werden, sondern vielmehr um das Hineinhorchen in sich selbst, das Ausbrechen aus dem gehemmten Körper, nicht nur in sexueller, sondern eben auch in körperlich-geistiger Hinsicht. Außerdem beschäftigt sich „Touch Me Not“ noch mit einem Transvestiten, dem Laura ebenfalls durch das „Hüllenfallenlassen“ näherkommt und sehr ausgiebig mit der Swinger-/BDSM-Szene und ihren hemmungslosen Spielarten.

Ob das alles immer in der gezeigten Länge nötig ist, darüber darf diskutiert werden, doch ihren Platz haben alle Personen, die jeweils eine Facette von krankhaftem oder stigmatisiertem Umgang mit der eigenen Sexualität symbolisieren. Dabei gelingt es Pintilie, eben diese Klassifizierungen und Ressentiments zu hinterfragen und unentwegt Brücken zu bauen. Brücken zwischen Menschen, die sich anders definieren (müssen) und die Eindeutigkeiten entschieden ablehnen. Das hätte gerne etwas weniger kühl als in Weiß- und Grautönen bebildert werden können, doch das Herz ist mehr als deutlich zu erkennen. „Touch Me Not“ ist eine Empathieübung für sich selbst, muss sich der Zuschauende doch unentwegt hinterfragen, wie weit die eigene Toleranz reicht, das auf der Leinwand oder dem Bildschirm mitanzuschauen. An welcher Stelle bricht das eigene Verständnis und warum?

Ein mutiges Projekt, das Christian Bayerlein seinen Job als Inklusionsbeauftragter, das aber auch zeigt, wie sehr Sexualität noch immer weit in die Privatsphäre zurückgedrängt wird, übrigens genauso wie Schwäche und Zweifel. Dabei bebildert „Touch Me Not“ sehr eindrücklich, dass Nähe ein menschliches Bedürfnis darstellt, das ein ausgeprägtes Körperbewusstsein braucht, um sich ausdrücken zu können. Es ist auch kein Porno, denn der Film wirkt zu keiner Zeit erregend. Die Gräben zwischen Menschen, zwischen Individuen, zwischen „du“ und „ich“, das ist die große Ironie des Projekts, kann der Film nicht ausfüllen, da stößt das Medium an seine Grenzen. Doch dieses Scheitern ist in diesem Fall in Ordnung, bietet es doch Anstoß, über die Ausdrucksformen des menschlichen Lebens, wie es der Film auch ist, nachzudenken und Anstöße zu liefern, das eigene Verhalten zu überdenken. Kommunikation, die Verbalisierung ist dabei der erste Schritt, wird aber auch der letzte bleiben, denn danach kommt nur etwas „Unsprachliches“, die echte Verbindung zwischen zwei Menschen.

„Touch Me Not“ ist dabei eine Studie über „Normalität“ und ihre ausschließende Wirkung. Wer normal sein will, fühlt entweder den Druck, sich diesem Label gegenüber angemessen zu verhalten oder bekommt gar nicht erst die Chance, in die Mitte der Gesellschaft aufgenommen zu werden. Dabei sollte dies im Sinne der Menschenwürde kein exklusiver Club sein, für den die Gesellschaft im alltäglichen Miteinander Aufnahmekriterien entwirft. „Touch Me Not“ ist dementsprechend eine Forschungsarbeit, dass die Konstruktion von Normalität aufdeckt und hinterfragt. Ein Metafilm, der glücklicherweise ein von der EU gefördertes europäisches Gemeinschaftsprojekt geworden ist, das auch hinter der Kamera zeigt, worum es dem Projekt geht: Um die Menschlichkeit durch Gemeinschaft.

Fazit: „Touch Me Not“ wurde glücklicherweise für den Mut von Adina Pantilie ausgezeichnet, die ein Experiment wagt, das zuweilen scheitert und scheitern muss und sich manchmal zu sehr in eher unwichtig scheinenden Szenen verliert, das aber vor allem mit den inhaltlichen und formellen Grenzen des Mediums Film spielt wie mit den soziale und philosophischen Fragen von Normalität, Sexualität und menschlicher Ausdrucksform. Der Umgang mit Behinderten und anderen als krankhaft deklarierten und stigmatisierten Menschen wird in „Touch Me Not“ an der Schwelle von Realität und Fiktion eingeübt und ohne dass die Gräben durch den Film aufgehoben werden können, ist „Touch Me Not“ eine Empathie-Übung, eine Reise zu den eigenen Hemmschwellen und genau deswegen ein zutiefst menschliches Projekt.

Cover und Szenebilder © Alamode Film

  • Titel: Touch Me Not
  • Produktionsland und -jahr: ROM, D, CZE, BUL, FRA
  • Genre:
    Experimentalfilm
  • Erschienen: 05.04.2019
  • Label: Alamode Film
  • Spielzeit:
    ca. 125 Minuten auf 1 DVD
  • Darsteller:
    u.a.
    Laura Benson
    Tómas Lamarquis
    Christian Bayerlein
  • Regie: Adina Pintilie
  • Drehbuch: Adina Pintilie
  • Kamera: George Chiper-Lillemark
  • Schnitt: Adina Pintilie
  • Musik:
    Ivo Paunov
    Einstürzende Neubauten (musikalische Unterstützung)
  • Extras:
    Trailer
  • Technische Details (DVD)
    Video:
    2,35:1 (16:9)
    Sprachen/Ton
    :
    GB
    Untertitel:
    D
  • FSK: 16
  • Sonstige Informationen:
    Produktseite

Wertung: 11/15 dpt


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