Vom „Skandalfilm“ zum Klassiker, dieses Schicksal ereilte auch „Die Reifeprüfung“. Wie bei allen Filmen dieser Kategorie sollte dieser Werdegang das Werk im Nachgang noch wertvoller erscheinen lassen und wenn denn jemand seiner Zeit voraus war, dann Mike Nichols 1967. Er sollte den besonderen Zeitgeist so eindrücklich und stilistisch außergewöhnlich und fortschrittlich einfangen wie seinerzeit kaum ein anderer Kunstschaffender. Die neue Remastered-Version gewährt einen geschärften Blick auf den in jeder Hinsicht bemerkenswerten Film, analysiert ihn im ausschweifenden Bonus Material bis ins kleinste Detail und stellt anno 2019 die Frage, warum „Die Reifeprüfung“ nicht viel häufiger als Referenzwerk der heutigen Zeit herangezogen wird.
1967, in den USA brodelt es zwischen den Generationen. Es ist außerdem das Jahr, in dem sich eine besondere glückliche Fügung für die Filmegeschichte ereignet: Regisseur Mike Nichols will sich gerade weiter als Filmemacher versuchen, als ihm „The Graduate“ von Charles Webb in die Hände fällt. Eine für die damaligen Verhältnisse gar skandalöse Geschichte, geht es in dem Roman aus dem Jahr 1963 doch um die Affäre eines gerade volljährig gewordenen Mannes mit einer verheirateten Frau, die im Altersunterschied seine Mutter sein könnte. Was dem Autor verwehrt blieb, sollte der Filmschaffende vier Jahre später durch die Sensibilität für den Zeitgeist und ein (glücklicherweise) perfektes Timing erreichen: „Die Reifeprüfung“ ist ein höchst einflussreiches Zeitkolorit.
Die Geschichte der Beziehung zwischen Benjamin Braddock (Dustin Hoffman) und Mrs. Robinson (Anne Bancroft) ist zur Metapher für eine Periode des Bruchs geworden. Der junge Ben hat das College mit Höchstleistungen hinter sich gebracht, doch in ihm wehrt sich etwas gegen die von seinen Eltern gegebene Feierlichkeit anlässlich seines Abschlusses dieses Lebensabschnitts. Als sie ihn doch aus seinem Zimmer locken können, wird es deutlicher, was ihm dabei widerstrebt: Die Welt der Elterngeneration, die ihn in ihrer feierlichen Einführung und Zurschaustellung ihres hohlen Lebens im gehobenen Mittelstand einengt. Schon heftet sich ein Freund der Familie und Geschäftsmann an den Neu-Erwachsenen und potenziellen Gewinnmaximierer. Es gäbe da eine super Gelegenheit, die an ihn gehegten Erwartungen zur Konservierung des vorgelegten Life Styles zu erfüllen: Plastik.
Zeitgleich hat auch Mrs. Robinson, eine Freundin der Familie, ein Auge auf den stattlichen wie von der Angst bezüglich der fremdbestimmten Festlegung seiner Zukunft verunsicherten jungen Mann geworfen. Als er sie nach Hause fährt, flirtet sie erst subtil mit ihm und pflanzt dann im Zuge eines amüsanten Spielchens geschickt einen Gedanken in ihn: Du kannst mich haben, du brauchst dich nur zu melden. Als sich Ben dann schließlich testosteronvernebelt dazu durchringt, das Angebot anzunehmen, wird das gesamte tragikomödiantische Potenzial des Stoffs minutiös ausgebreitet. Der nun völlig närrische noch geistig Halbstarke versucht ein Hotelzimmer zu organisieren, was sich in den durch Improvisation befreiten Szenen zu einem großen Slapstick-Spaß entfaltet. Doch die Verzerrung des eigenen Selbstbewusstseins hin zur Lächerlichkeit bekommt eine dramatische Wendung, als sich der nun zumindest in sexueller Hinsicht selbstbewusste Ben entgegen der einzigen Versprechen gegenüber Mrs. Robinsons in ihre Tochter Elaine (Katharine Ross) verliebt.
Der Mann ist wie alle Jugendlichen dieser Zeit in Aufruhr, wird zur Positionierung zwischen Konformismus und Rebellion gezwungen. „Die Reifeprüfung“ fängt dabei den Zeitpunkt des Umbruchs ein, in der sich die Jugend von der Bevormundung durch die vorangegangene Generation lossagt, doch der wahre Terror besteht in der nachfolgenden Ratlosigkeit, die sich bezüglich der Ziele des eigenen Handels ergeben. Konservatismus verspricht Sicherheit, alles andere wird zum Stochern im Nebel. Es ist nicht der einzige Kommentar, der ohne Weiteres oder gar in verschärfter Form auf das unbestimmte Heute angewandt werden kann.
Dabei kann Ben in der legendären Bettszene Erstaunliches aus der ihm bis dahin lediglich als Sexualpartnerin bekannten Mrs. Robinson entlocken. Die selbstsicher und berechnend wirkende Mutter und Ehefrau mutiert (sicherlich nicht zum ersten Mal) zur Fremdgeherin, weil sie das sichere Leben des Establishments ankotzt und sie ihre Träume allzu früh zugunsten ihrer Tochter aufgeben musste. Das legitimiert ihre Handlungen keineswegs, sie wird sogar bestraft, indem sich der verwirrte Ben aus irgendeinem Grund doch in Elaine verliebt und diesen letzten geschützten Ort der Reinheit zu beschmutzen droht. Es ist der Instinkt des jungen Mannes, Elaine aus dieser Spirale des geistigen Todes zu befreien und sich gleich mit, wenn er sie erst um jeden Preis ehelichen will und schließlich nach der überhasteten Heirat mit einem anderen aus der Kirche errettet. Für beide ist eine Emanzipation und eine Flucht in die Freiheit, es ist noch nicht zu spät, doch die letzten ambivalenten Blicke nach dem ausgelassenen Rumgealbere verrät: Elaine und Ben haben Schaden genommen und fahren einer ungewissen Zukunft entgegen. Die Identitätssuche hat gerade erst begonnen.
Es könnte dieses Ende sein, das „Die Reifeprüfung“ um einen gewichtigeren Status unter jungen Menschen der gegenwärtigen Zeit bringt. Gegen das Establishment zu rebellieren, schickt sich trotz der Differenzierung sozialer Verhältnisse noch heute, nur verlängert sich die Phase der Ungewissheit zunehmend und vielleicht wächst sie sich alsbald zum Normalzustand aus. Doch so sehr sich Mike Nichols einer Lösung der gezeigten Problemlagen verwehrt, umso mehr schöpft er aus der Aufgabe der Bebilderung künstlerische Kraft. Der Filmemacher findet für seine Metapher-Geschichte auch in formaler Hinsicht Sinnbilder, so wie die zahlreichen Spielarten mit Wassermotiven, innovative Schnitttechniken sowie ikonische Bilder und Szenen, die heute nichts von ihrer Strahlkraft eingebüßt haben. Zusammen mit der bis dahin noch nicht auf einer Kinoleinwand gesehenen Beziehungskonstellation stieß „Die Reifeprüfung“ an Grenzen und wurde zum Klassiker, weil er ebendiese verschieben konnte und als Vorläufer des New Hollywood-Films zu deuten ist.
Das Werk schrieb auch in seinem Umgang mit Musik Filmgeschichte, denn waren zuvor nur eine Handvoll von Originalsongs in Spielfilme einbezogen worden, griff Nichols gleich auf einen ganzen Soundtrack aus Simon & Garfunkel-Stücken zurück. „The Sound of Silence“ passte so gut zu „Die Reifeprüfung“, dass der zwei Jahre zuvor veröffentliche Song als Ausgangspunkt für die Filmmusik genutzt wurde. „Mrs. Robinson“ komponierte Simon eigens für den Film und verlieh dem cineastischen Werk eine einmalige Atmosphäre. Das mehrstündige und trotz einiger Dopplungen äußerst sehenswerte Bonus Material inklusive zu verschiedenen Jubliäumszeitpunkten geführten Specials, Interviews mit den Beteiligten, Analysen durch Film- und MusikwissenschaftlerInnen sowie interessanten Probeaufnahmen lässt kaum ein Detail rund um die Entstehung des Meisterwerks aus, das trotz seines Status heute gerne noch etwas häufiger rezipiert werden dürfte.
Fazit: „Die Reifeprüfung“ ist ein besonderes Meisterwerk, weil es sich als Zeitkolorit und Skandalfilm sowie in seinem Umgang mit Technik und Musik zu einem großen Meilenstein der Filmgeschichte entwickeln konnte. Die Geschichte einer skandalösen Affäre zwischen Jung und Alt spiegelt wie kaum ein anderes seine Entstehungszeit wider, die von gesellschaftlichen Umwälzungen und Brüchen zwischen den Generationen geprägt war. In der vorliegenden Remastered-Version mit mehrstündigem Bonus Material wird das Werk detailliert auseinandergenommen und die Aktualität deutlich, an die immer wieder erinnert werden sollte.
Cover und Szenebilder © Arthaus
- Titel: Die Reifeprüfung
- Originaltitel: The Graduate
- Produktionsland und -jahr: USA, 1967
- Genre:
Drama
Romanze
- Erschienen: 28.02.2019
- Label: Arthaus
- Spielzeit:
ca. 106 Minuten auf 1 DVD
ca. 106 Minuten auf 1 Blu-Ray - Darsteller:
Dustin Hoffman
Anne Bancroft
Katharine Ross
- Regie: Mike Nichols
- Drehbuch:
Calder Willingham
Buck Henry
Charles Webb (Buch)
- Kamera: Robert Surtress
- Schnitt: Sam O’Steen
- Musik: Simon & Garfunkel
- Extras:
Featurettes „Looking Back – Ein Film der 1960er Jahre“, „Die Rolle der Musik im Film“, Szenenanalyse; Interviews mit Dustin Hoffman, Romanautor Charles Webb sowie Produzent Lawrence Turman; Dokumentation über Mike Nichols (ca. 53 Min.); Die Reifeprüfung – 25 Jahre später; Students of the Graduate; Screen Tests; Audiokommentare von Mike Nichols, Dustin Hoffman, Katherine Ross u.v.a.; Behind the Scenes Gallery - Technische Details (DVD)
Video: 2,35:1
Sprachen/Ton: D, GB, FRA
Untertitel: D, GB, FRA
- Technische Details (Blu-Ray)
Video: 2,35:1 (1080/24p Full HD)
Sprachen/Ton: D, GB, FRA
Untertitel: D, GB, FRA - FSK: 12
- Sonstige Informationen:
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