Ein Überraschungshit aus Dänemark: „The Guilty“ ist das Debüt-Spielfilm einer Filmschulclique um Regisseur Gustav Möller und faszinierte Ende letzten Jahres KritikerInnen wie KinozuschauerInnen weltweit. Dabei handelt es sich bei dem Krimi um ein auf das Nötigste reduziertes Experiment mit denkbar einfacher Ausgangsidee. Tatsächlich zeigt „The Guilty“, dass das spannender sein kann als manch eine Genre-Millionen-Produktion, aber auch nicht vor den üblichen Fallstricken gefeit ist. Und außerdem: Ist das wirklich neu? Und ist das tatsächlich Stoff für einen Film?
Rund um die 30 ist Gustav Möller, als er und seine Filmschulfreunde aus der Not eine Tugend machen. Als Newcomer werden sie kein großes Budget an Land ziehen können, da passt die Idee eines minimalistischen Films auf Grundlage eines realen Notrufs verfügbar bei youtube: Ein Raum, ein Schauspieler im Mittelpunkt. „The Guilty“ begleitet den Polizisten Asger Holm (Jakob Cedergren) bei seiner Arbeit in der Notrufzentrale. Ein Job, der ihm nicht sonderlich zu gefallen scheint, aus seiner Sicht unangebrachte Anrufe schüttelt er unfreundlich ab oder macht sich wenig neutral über sie lustig. Irgendwas scheint in ihm vorzugehen, doch dann nimmt der Polizist einen weiteren merkwürdigen Anruf an, den er allerdings schnell ernst nimmt.
An der anderen Seite der Leitung spricht eine Frau übers Handy, zunächst wirkt es wie wirres Zeug, doch Asger erkennt, dass sie so tut, als würde sie mit ihren Kindern telefonieren. Sukzessive ermittelt Asger ein konkreteres Bild: Es geht offensichtlich eine Entführung vor sich, er spricht mit einer Frau namens Iben. Über moderne Rückverfolgungstechnologien kommt Asger an den Standort, den Namen und das Kennzeichen des Entführers, ihrem Ehemann Michael. Dann stößt der Polizist am Telefon aber an die Grenzen seiner Einflusssphäre, doch nachdem er mit der kleinen Tochter des Paars telefoniert hat, lässt er nicht locker und geht über seine Zuständigkeiten hinaus.
Nun könnte dies ein Lehrstück über die Möglichkeiten und Grenzen des für den Einzelfall blinden Protokolls sein, an das sich Ermittelnde zu halten haben, wenn da nicht Asgers allzu plumpe Hintergrundgeschichte wäre. Lange wird die Antwort herausgezögert, warum der Polizist so nervös und überempfindlich ist. Er hat selbst Mist gebaut und ist in die Notrufzentrale strafversetzt worden. Was er getan hat? Dreimal darf geraten werden. Jedenfalls steht ausgerechnet morgen seine Gerichtsverhandlung an, bei der sein Kumpel Rashid für ihn aussagen soll. Ja, und genau den bittet er auch jetzt um Hilfe, weil ihn seine anderen Polizei-KollegInnen aus seiner Sicht nicht unterstützen.
Beeindruckender wäre „The Guilty“ ausgefallen, wenn dieser Sideplot völlig außen vor geblieben wäre, denn auch ohne den übertriebenen Drang nach Wiedergutmachung und Selbstjustiz hätte Asger in Versuchung kommen können, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Wie kann ein Mann nur seine Frau entführen? Wie können sie die Kinder alleine zuhause lassen? Nach Asgers Ansicht fügt sich das Bild schnell: Der vorbestrafte Vater hat die Kontrolle verloren. Mit dieser aus den Hinweisen konstruierte Geschichte hinterlegt der Polizist fortan sein Handeln, das illegale Optionen für die moralische Gerechtigkeit abwägt. Der Clou: Aufgrund der unvollständigen Informationslage missinterpretiert Asger die Situation in wechselnden Konstellationen und macht sich auch in diesem Fall mindestens moralisch mitschuldig, weil er seiner virtuellen Anwesenheit aktiv in das Geschehen einschreitet und sich emotional beeinflussen lässt.
Wirklich neu ist die Kammerspiel-Idee nicht und findet in „No Turning Back“ oder in anders gelagerten Filmen wie „A Quiet Place“ und „Birdbox“ ganz unterschiedliche Spielarten bei der Einschränkung der Sinne. Wie es sich das Gustav Möller-Team vorgenommen hat, entsteht durch die simple Machart allerdings der erstaunliche Effekt, dass der Zuschauende selbst wie Asger denkt. Als wohltuender Kontrast zu den High-End-CGI-Blockbustern wird er/sie aktiviert und gezwungen, im Kopf Bilder entstehen zu lassen, um sich einen Reim auf das gesprochene Wort zu machen und so wird die schwierige Arbeit der Polizei erfahrbar, bei der Entscheidungen gefällt werden müssen, Emotionen keine Rolle spielen dürfen, sei es noch so schwer. Aber noch mal, dafür hätte es nicht den Spezialfall eines Polizisten gebraucht, der für eine solche Situation ein möglichst unpassendes Mindset mitbringt. Manch ein vermeintlicher Drehbuchfehler entpuppt sich zwar als Unzulänglichkeit Asgers, doch trotz seiner aktuellen persönlichen Lage und seines auffälligen Verhaltens über den Schichtwechsel hinaus, schreitet keine/r seiner KollegInnen ein oder meldet ihn. Oder warum ein schwieriger Mensch gerade hierhin versetzt wird. Ein grob fahrlässiges Verhalten, was aber zur unsteten Kritik des Films an den institutionalisierten Strukturen der Polizei passt.
Zwar schafft es „The Guilty“, Bilder im Kopf entstehen und jeden Zuschauenden ein Stück weit zu seinem/r eigenen RegisseurIn werden zu lassen, aber brauchte es dafür wirklich einen Film? Ohne Frage brilliert Jakob Cedergren in seiner Rolle als Asger Holm, nicht zuletzt weil er nur sein Gesicht (oder Teile davon) zur Verfügung hat, um sich Ausdruck zu verschaffen. Doch man erwischt sich permanent dabei, wie das auf dem Bildschirm Gezeigte immer wieder aus dem eigenen Fokus verschwindet, weil die Bilder vor dem inneren Auge viel intensiver wahrgenommen werden und man er zum genauen Zuschauen als zum Zuhören gezwungen ist. Für diese Erkenntnis hätte es aber keinen Film gebraucht, sondern einzig für die zu erreichende Reichweite, denn wann hat zuletzt ein Hörspiel die Massen bewegt?
Das lässt „The Guilty“ zu einer zwiespältigen Angelegenheit werden. Einerseits konstruieren Möller und co. einen spannenden Krimi, der mit äußerst bescheidenen Mitteln mehr Spannung und Plottwists erzeugt als manch ein komplexer Genre-Blockbuster. Andererseits stellen sich dramaturgische wie handwerkliche Fragen, denn „The Guilty“ fabriziert einige Logiklöcher und ist darin eben doch ziemlich genretypisch. Der Film verwickelt sich entgegen seines formalen Minimalismus in komplexen Widersprüchen, was gerade vor dem Hintergrund des Endes die Frage aufwirft, was denn nun die Moral der ganzen Geschichte sein soll. Für ein Polizeistück ein äußerst unzufriedenstellendes Fazit.
Fazit: „The Guilty“ findet großen Anklang unter Zuschauenden und Kritikern, weil es ihm gelingt, eine ungewöhnliche Idee des Filmemachens mit einer wendungsreichen Story zu verbinden, ohne dass sie auf der Leinwand oder dem Bildschirm gezeigt wird. Doch gleichsam verstrickt sich das minimalistische Debütwerk des dänischen Filmemachers Gustav Möller in seinem Anspruch, weist schon in seinem Fundament Logiklöcher auf, weiß keine konsistente Moral zu formulieren und muss sich zudem die Frage stellen, ob es wirklich auf clevere Weise das Medium Film nutzt, wie es das vorgibt, zu tun. Hier wäre noch mehr Minimalismus wünschenswert gewesen, um die schwierigen moralischen Fragen angemessen zu verhandeln.
Szenebilder und Cover © Ascot Elite
- Titel: The Guilty
- Originaltitel: Den skyldige
- Produktionsland und -jahr: DEN, 2018
- Genre:
Drama
Krimi
- Erschienen: 22.02.2019
- Label: Ascot Elite
- Spielzeit:
ca. 86 Minuten auf 1 DVD
ca. 86 Minuten auf 1 Blu-Ray - Darsteller:
Jakob Cedergren, Jessica Dinnage, Omar Shargawi, Johan Olsen, Jacob Lohmann, Katinka Evers-Jahnsen, Jeanette Lindbæk, Simon Bennebjerg - Regie: Gustav Möller
- Drehbuch: Gustav Möller, Emil Nygaard Albertsen
- Kamera: Jasper J. Spanning
- Schnitt: Carla Luffe
- Musik:
Carl Coleman
Caspar Hesselager
- Extras:
Interview, Trailer - Technische Details (DVD)
Video: 2,39:1 (16:9)
Sprachen/Ton: D, DEN
Untertitel: D, DEN
- Technische Details (Blu-Ray)
Video: 2,39:1 (1080p/ 24fps)
Sprachen/Ton: D, DEN
Untertitel: D, DEN
- FSK: 12
- Sonstige Informationen:
Produktseite
Wertung: 8/15 dpt
Hallo! Wirklich echt spannend erläutert. Ich werde mir diesen Film definitiv ansehen. Gerade, wenn man auch Thriller der Art (auch oft aus Skandinavien) liest, erwartet man auch bei Filmen diese eine Spannung. Was gerade schön ist, ist, dass der Film nicht der US-amerikanischen Massenproduktion entkommt und ihn das schon besonders macht. Danke für die spannende Empfehlung.