Es gibt Bücher, vor deren Lektüre der Rezensent in vorauseilender Ehrfurcht an plötzlich einsetzender Prokrastination leidet. Mit dem epochalen Roman „Ein Garten im Norden“ hat sich Kleeberg in das Herz des Rezensenten geschrieben. Seine klugen Essays, seine Romane bestechen durch völlig differente Tonalitäten und unterschiedliche Topoi. Den poeta doctus, den sich Kleeberg gerne auch mal raushängen lässt, auf allerdings durchaus elegante Weise, erkennt man jedoch in allen Werken.
In seinem aktuellen Roman, „Der Idiot des 21. Jahrhunderts. Ein Diwan“, schwingen bereits im Titel zahlreiche Assoziationen mit: Dostojewskis „Idiot“, Sartres Flaubert-Roman „Der Idiot der Familie“ und natürlich auch Goethes „West-Östlicher Diwan“. Der Rezensent gibt zu, sich ob dieses bedeutungsschwangeren und referenzreichen Titels erst einmal kritisch hinterfragt zu haben, ob er denn dem zu vermutenden Niveau dieses Romans gewachsen sei. Die Lektüre von Goethes „West-Östlichen Diwan“, die ließe sich ja noch an, aber vorbereitend Dostojewskis „Idiot“ erneut zu lesen, das stand doch erst allerfrühestens in zwanzig Jahren an.
Doch wie beim Schwimmen, ist es manchmal besser, sich nicht von des Wassers gefühlter Kälte abschrecken zu lassen und sich stattdessen einfach hineinzuspringen zu trauen. Dieser Rat sei all jenen gegeben, die ebenfalls zögern sollten. Es lohnt sich.
Es lohnt sich, selbst wenn der Rezensent aufzählt, welche Fragen Kleeberg nebst vielen anderen berührt: Natürlich geht es um das Verhältnis von Orient und Okzident, proudly presented by Christentum und Islam, Migration, Aussteiger, Kapitalismus, Revolte, 68er, große Utopien und nicht zuletzt um die Liebe, das Wahre, Schöne, Gute, das gelingende Zusammenleben von Menschen und den Ort, an dem es sich zu leben lohnt, Heimat – und das alles unter der großen Glocke namens Globalisierung. Und wenn wir wollen, können wir das alles und noch viel mehr mit Helmut Rosa und seiner Resonanz-Theorie zusammenbringen und deuten.
Doch verlassen wir kurz die Metaebenen des Romans: Wir befinden uns in einer Art Jetztzeit in einem Vorort von Frankfurt, einem der vielen Mühlheime, die es in Hessen, Rheinland-Pfalz und NRW gibt. Ein illustrer Kreis von Freunden, Ehepaaren und Lebensgefährten trifft sich und versucht, nicht nur über Freundschaft und Gesellschaft nachzudenken, sondern auch Utopien eines anderen Zusammenlebens zu verwirklichen. Mit dabei und im Zentrum dieses Romans ist Hermann, einst hoffnungsvoller Doktorand der Philosophie, dann Aussteiger, jetzt Lehrer in Frankfurt. Maryam, eine iranische Sängerin, die erst in den Iran zurückgekehrt ist, um dann wieder nach Deutschland auszuwandern, da ihr das Singen verboten wurde. Ebenfalls zum Personenkarussell gehören ein libanesischer Pastor, ein polnischer Handwerker, ein Ex-Sponti, der lange einen Verein für Jugendsozialarbeit leitete, seine Frau und ein arabischer Lyriker.
All diese Personen haben nicht nur etwas zu sagen, sondern auch eine Geschichte, sei sie selbst erlebt, erfahren oder zugetragen. Kaleidoskopisch, mäandrierend breitet Kleeberg ihre Geschichten aus. Was Michael Kleeberg wagt, ist immens. Es sind nicht nur die intertextuellen Bezüge, die er evoziert, von ihnen gibt es Legionen, es ist sein Mut zum unumwundenen Pathos, zur Idylle, zur Utopie, zum großen Wurf, zum Menschen als Weltbürger, zum Bekenntnis, dass der Mensch durchaus Großes vollbringen kann. Flankiert werden diese Elemente von nüchternen, fast schon dokumentarischen Episoden und meisterhaft erzählten Geschichten, die schlichtweg unterhaltsam sind, jedoch immer auf mehr verweisen als nur das vordergründig Erzählte.
Dass wir es in diesem Roman in nuce mit einer an Tristan und Isolde angelehnten, prototypischen Liebesgeschichte zu tun haben, die es wert ist, erzählt und gelesen zu werden, sei mal am Rande erwähnt. Ebenfalls am Rand platziert sei die Bemerkung, dass Kenner persischer Erzähltradition die Referenz nicht bei Tristan und Isolde sondern in Nizamis „Leila und Madschnun” sehen. Diese Liebesgeschichte ist das durchgehende erzählerische Band, das die pathetischen Passagen auffängt, aber auch die erschreckenden, nüchternen, dokumentarische Episoden mit in die richtigen Bahnen lenkt. Gleichzeitig ist sie zusammen mit den hier eingeführten Protagonisten Dreh- und Angelpunkt dieses meisterhaft geknüpften Diwans, der nicht nur eine emotionale sondern auch erkenntnisreiche, inspirationsreiche und vor allem auch zukunftsgewandte Achterbahnfahrt bietet.
Wir sollten uns jedoch nicht missverstehen. Es mag sein – und viel spricht dafür, dass Michael Kleeberg ein großes poetisches Programm entwirft. Doch ein Thesenroman, der den Leser ungefragt in eine Richtung stößt, ist der „Idiot des 21. Jahrhunderts” keinesfalls. Kleeberg spielt andauernd mit seinen Referenzen, verweist, evoziert und jongliert; dennoch ist und bleibt er ein begnadeter Erzähler, der weiß, dass seine Leser nicht nur Luft zum Lesen brauchen, sondern eben auch zum Denken. Er macht sich hier – im Sinne Dostojewskis – zum Idioten, zu jemandem, der sich erstmal keiner Ideologie hergibt, jemand, der nicht verführ- und verfügbar für andere ist.
Was dieser Roman bietet, ist eine schier unermessliche Inspirations- und Reibefläche, das Staunen über einen Autor, der nicht nur sehr viel weiß, sehr viel zusammenträgt, sondern eben auch sehr viel wagt. Es mag sicherlich Leser geben, die mit den zahlreichen Anschlagsvarianten seiner stilistischen Klaviatur nicht zurechtkommen, die die idealistischen, utopischen und pathetischen Passagen vielleicht etwas zu übertrieben finden – Geschmackssache. Nach Meinung des Rezensenten braucht es diese emotionale Höhe zwingend, es geht am Ende um zu viel – und das bilden Sprache und Topoi ab.
„Der Idiot des 21. Jahrhunderts” wird sicherlich von viel zu wenigen Menschen gelesen werden. Diejenigen, die sich an diesen Roman herantrauen, werden jedoch belohnt – ein epochales Werk eines Autors, der sich weit aus dem Fenster lehnt, Haltung wahrt und über so viel Substanz verfügt, dass so manch utopisches Bild in seinem Erzähl- und dem Interpretationskosmos des Lesers gar nicht mehr so utopisch erscheint. In diesem großen Roman gelingt Kleeberg Zeitgeschehen, Zeitgenossenschaft exemplarisch anzupacken, große Antworten vielleicht nicht endgültig zu geben, aber Deutungshorizonte mitschwingen zu lassen.
Cover © Galiani
- Autor: Michael Kleeberg
- Titel: Der Idiot des 21. Jahrhunderts. Ein Diwan
- Verlag: Galiani
- Erschienen: 2018
- Einband: Gebunden
- Seiten: 464 Seiten
- ISBN:978-3-86971-139-3
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Wertung: 14/15 dpt