Das „Flanieren“ wird heute meist spaßhaft als Synonym genutzt, wenn der schnöde Spaziergang zumindest auf der verbalen Ebene etwas aufgepeppt werden soll. Dass uns der Flâneur immer mehr verlorengeht, weil der mit ihm verbundene Müßiggang nicht recht in unsere Zeit passen mag, ist bedauernswert genug. Dass sein weibliches Pendant sich diese Rolle noch immer hart erarbeiten muss, hält uns Lauren Elkin mit ihrem launig geschriebenen Buch „Flâneuse“ vor Augen. Die Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin macht darin deutlich, dass es sich bei diesem Konzept eben nicht um ein Eins-zu-eins-Abbild des Männlichen handelt, sondern die Flâneuse eine Rebellin sein muss, die allein durch ihre Anwesenheit revolutionär wirkt. Dabei verrennt sich Elkin aber leider zu oft in ihren Leidenschaften und verwässert ihre klugen Ideen mit der Unsicherheit der Generation Y.
Der Flâneur wirkt heute aus der Zeit gefallen. Das ziellose Herumstreifen durch städtische Strukturen passt nicht zu einer Weltkonstruktion, in der jede Minute genutzt werden muss. Es könnte wie ein Aufbegehren anmuten, dass jemand gänzlich ohne Agenda durch die Straßen wandert, wenn ihn denn dabei jemand beobachten würde. Aber genau darum geht es beim Konzept des Flanierens: Der Flâneur findet Eingang in die ihn umgebenden Strukturen, fällt nicht auf und erreicht dabei einen Bewusstseinszustand, in dem er sich von Impulsen statt von Zielen leiten lässt. Nur ihm ist es vergönnt, mit der Stadt auf Tuchfühlung zu gehen.
Wenn bislang nur von „ihm“ die Rede war, dann braucht sich der Verfasser dafür nicht zu entschuldigen. Lange Zeit war das Flanieren eine rein männliche Beschäftigung, denn nur Männer besaßen den Reichtum, mit dem sich Freizeit kaufen ließ. Frauen hingegen hüteten als Mütter das Haus oder fuhren mit der Kutsche zum „Shoppen“. Sie waren auf den Straßen schlichtweg nicht anzutreffen. Als es ihnen dann doch gestattet wurde (oder sie sich das Recht herausnahmen), ohne Begleitung die Öffentlichkeit aufzusuchen, konnten sie unmöglich nicht auffallen. Der Flâneuse ist es nicht vergönnt, unsichtbar zu bleiben und nachzufühlen, was demnach dem Flâneur vorbehalten bleibt.
So lautet die kluge Grundthese von Autorin Lauren Elkin zum Konzept der Flâneuse. Auf den ersten 37 Seiten ihres gleichnamigen Buches beschreibt sie auf unterhaltsame Weise die Grundpfeiler des „Flâneusierens“ als einen unverkrampften Beitrag zum Feminismus. Elkin skizziert, wie Frauen sich in den vergangenen Jahrhunderten ihre Positionen erkämpfen mussten und auch heute noch müssen, doch sie rechnet nicht einfach mit den Männern und ihrer Machtgier ab. Vielmehr erkennt sie in der Flâneuse eine Figur der Selbstermächtigung, die deswegen politisches Gewicht bekommt, weil sie in Räumen auftritt, in denen sie normalerweise nicht zu sehen ist. Hierdurch irritiert sie und deckt unsichtbare Machtstrukturen auf, die sich in den räumlichen Zusammenhängen der Stadt äußern.
Nach dem starken Intro begibt sich Elkin auf eine Zeitreise durch verschiedene Epochen und orientiert sich an ihren weiblichen Vorbildern und Heldinnen. Als Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin wählt sie hauptsächlich Autorinnen wie Virginia Woolf, Jean Rhys und George Sand, aber auch andere Künstlerinnen wie die Filmemacherin Agnès Varda aus, die sich auf ganz unterschiedliche Weise mit der Stadt auseinandergesetzt haben, die Elkin aber unter dem Titel der Flâneuse vereint. Sie alle sind starke Frauen, die es nach draußen in die Stadt zog und die dafür Widerstände (seitens der Männer) überwinden mussten.
Romanciers, Wissenschaftler, Filmemacher, das waren lange Zeit durchweg männliche Betätigungen. Obgleich auch zuvor vor allem Frauen aus reichem Hause die Freiheit der Straße suchten, wurde dieses Verhältnis der Geschlechter mit der Öffnung des Arbeitsmarkts für Frauen nach dem Ersten Weltkrieg in der Breite aufgeweicht. Auch heute ist der Weg zur Gleichberechtigung weit, doch Elkin selbst ist der Beweis dafür, dass es vorangeht. Die Amerikanerin ist eine Intellektuelle, die sich fraglos gegen Widerstände durchsetzen musste, doch mittlerweile darf sie das sein, wofür ihr Herz schlägt.
Wenig hat die Autorin bislang von sich preisgegeben, doch durch ihre Auswahl der Personen und Orte, die das Buch strukturieren, ist „Flâneuse“ ein sehr persönliches Buch geworden. Jedes Kapital beschäftigt sich mit einem anderen Schwerpunktthema, einer anderen Stadt und einem anderen Vorbild, doch in jedem steckt ein Stück Lebensgeschichte von Lauren Elkin. Ihr Geburtsdatum sucht man vergeblich, doch durch ihren Umzug nach Paris 1999 lässt sich zusammenreimen, dass sie ein Kind der Generation Y ist. Aufgewachsen ist sie in einem Vorort von New York, in dem sie vergeblich nach Anlässen zum Flâneusieren suchte, denn in den suburbs ist alles auf das Auto ausgerichtet. Die Wege sind weit, die einzig spannenden Treffpunkte die Shopping Malls und die Existenz von Gehwegen ist nur ein lebhaftes Gerücht.
Vor diesem Hintergrund muss dann auch gesehen werden, dass sich Elkin Hals über Kopf in Paris und später andere Großstädte verliebte. Ist dem gemeinen Europäer heute eine Millionenmetropole suspekt oder legt er zumindest einen differenzierteren Blick an, wenn es um die Kritik an ihnen geht, so muss Paris für Elkin eine Offenbarung gewesen sein. Sie wandert sich die Füße wund und ist überwältig von der Schönheit der Stadt. Das lässt einen zumindest stolz werden auf das Erbe der europäischen Stadt, das es unbedingt zu bewahren gilt. Gerade im Vergleich zu Tokio, wo die Autorin unfreiwillig der Liebe wegen leben muss, wird besonders deutlich, wie sehr der Mensch darauf angewiesen ist, sich die Stadt erlaufen zu können, um sie zu begreifen und sich selbst zu verorten.
Elkin nimmt kein Blatt vor den Mund, schreibt mutig, ehrlich, selbstkritisch und fast selbstzerstörerisch. Sie geht hart mit sich und ihrem Leben ins Gericht, was bei zweifellos klugen Gedanken ein wenig die Frage aufwirft, welches Genre die Autorin bedienen möchte. Sicherlich ist der Genre-Mix geplant, dennoch hätte eine klarere Abgrenzung zwischen autobiographischem Roman, Essay und wissenschaftlicher Abhandlung dem Projekt gutgetan. Elkin verrennt sich ein ums andere Mal in der Beschreibung ihrer zum Teil toxischen Beziehung zu ihrem Exfreund, wobei nicht immer klar wird, ob es noch ums übergeordnete Thema des jeweiligen Kapitels geht.
Gerade die schonungslose Subjektivität könnte für viele LeserInnen den Reiz ausmachen, sich mit einem scheinbar trockenen, altbackenen Thema auseinanderzusetzen und sie hat auch durchaus ihren Reiz, manchmal schießt Elkin aber über das Ziel hinaus. Jede Künstlerin, der sie nachgeht, begleitet sie mit einer Detailfreudigkeit, die erahnen lässt, wie nerdig diese Doktorin mit ihren Leidenschaften umgeht. Wer mit den genannten Damen aber noch nicht vertraut ist, sollte sich gewahr sein, dass Elkin keine Rücksicht auf Spoiler nimmt. Wer Agnès Vardas „Cléo from 5 to 7“ noch nicht kennt, sollte ihn zuvor schauen oder muss damit zurechtkommen, die gesamte Handlung und weitere Hintergründe beschrieben zu bekommen.
In diesem Sinne passt der Flâneur und die Flâneuse dann aber vielleicht doch in unsere Zeit. Das Herumwandern kann als Symbol für das stetige Suchen nach dem verstanden werden, wonach wir streben. Bei dieser Unsicherheit bekommt der Weg schließlich doch ein Ziel, zumindest wenn es nach Elkin geht. Sie geht offensiv mit ihrer eigenen Unsicherheit um, was in der schonungslosen Beschreibung der Umstände nervig und prätentiös sein kann. Gerade die Millennials werden in Elkins Buch aufgehen, weil sie sich in ihr wiedererkennen werden, der Frau, die noch immer nicht angekommen zu sein scheint, aber zwischen Paris, London und Tokio lebt. Die stärker ist, als sie sich verkauft, aber scheinbar noch immer das Leben einer Studentin führt.
Der Lesende wünscht sich dann doch ein ums andere Mal eine ernst gemeinte Expertise von Elkin, wozu sie aufgrund ihres Wissenshungers und ihres akademischen Grades fraglos in der Lage ist. Denn „Flâneuse“ sensibilisiert einen dafür, inwieweit Frausein und Stadtgestaltung in Beziehung steht und lädt dazu ein, weitere Faktoren wie Geschlecht oder Status einzusetzen, um es die These mit anderen Menschen durchzuspielen. Mit noch mehr wissenschaftlichen Inhalten wäre klarer geworden, worin die Unterschiede zwischen London, Paris, Venedig und Tokio liegen und was diese Städte vereint: Das Überall. Ein Überall, das sich Frauen erst noch erkämpfen müssen.
Fazit: Lauren Elkin besitzt eine Begabung für das unterhaltsame Schreiben und konstruiert „Flâneuse“ irgendwo zwischen Essay, wissenschaftlicher Arbeit und autobiografischem Roman. Das erleichtert den Lesefluss, doch durch ihre allzu persönliche, subjektive Herangehensweise wirkt ihr Buch streckenweise wie eine Aufarbeitung ihres eigenen Lebens. Dabei hat die Autorin und Literaturwissenschaftlerin Wichtiges über das Konzept der Flâneuse und das Verhältnis zwischen Frau und Stadt zu sagen und sorgt für manch einen erstaunlichen Aha-Moment. Würde sie sich konsequenter und selbstbewusster auf ihre Stärken besinnen, könnte „Flâneuse“ mehr als nur ausgewählte Kreise wie Kinder der Generation Y oder die Millennials ansprechen und es gar zum feministisch-urbanen Manifest bringen.
Cover © btb
- Autor: Lauren Elkin
- Titel: Flâneuse – Frauen erobern die Stadt – in Paris, New York, Tokyo, Venedig und London
- Originaltitel: Flaneuse – Women Walk the City in Paris, New York, Tokyo, Venice and London
- Übersetzer: Cornelia Röser
- Verlag: btb
- Erschienen: 11/2018
- Einband: Gebundenes Buch
- Seiten: 392
- ISBN: 978-3-442-75773-2
- Sonstige Informationen:
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Wertung: 9/15 dpt