Thelma (Spielfilm, DVD/Blu-Ray)
“Thelma” beginnt mit einer meisterhaft inszenierten Szene. Ein Vater, augenscheinlich ein Jäger, geht mit seiner kleinen Tochter über einen zugefrorenen See Richtung Wald. Dort sehen die Beiden in einiger Entfernung ein Reh. Der Vater lädt sein Gewehr und zielt. Doch nicht auf das Reh, sondern auf den Rücken seiner Tochter. Es vergehen scheinbar endlose Sekunden, in denen der Mann versucht abzudrücken. Er kann es nicht. Schnitt.
Die eigentliche Handlung startet nach den Credits mit einem ausgefeilten Establishing-Shot. Man sieht Menschen, die einen großstädtischen Platz durchqueren. Es dauert, bis die Kamera eine junge Frau in den Focus nimmt. Der zentrale Punkt inmitten eines Menschenkreuzes: Thelma. Besser kann man Atmosphäre, Handlung und Hauptfigur kaum etablieren.
Thelma ist aus ihrem streng behüteten, tief christlichen Elternhaus in der ländlichen Einsamkeit Norwegens zum Studieren nach Oslo gezogen. Die offenkundig überfürsorglichen Eltern kontrollieren die junge Frau nervig oft via Smartphone, während Thelma versucht, sich in der ungewohnten Umgebung zurechtzufinden.
Obwohl scheu und kommunikativ unerfahren, gelingt es ihr recht schnell Fuß zu fassen und Freunde zu finden. Besonders zu ihrer Kommilitonin Anja fühlt sie sich hingezogen. So sehr, dass eine erste Berührung zu einer Art epileptischem Anfall führt. Wie überhaupt Thelmas heftigeren Gefühlsregungen scheinbar unerklärliche Ereignisse provozieren. Die Erde bebt (mehr als sprichwörtlich), riesige Kronleuchter beginnen zu schwingen und Vögel fliegen zuhauf gegen Scheiben. Dazu gesellen sich finstere Träume. Trotzdem findet eine immer intensivere, auch körperliche, Annäherung zwischen den beiden Studentinnen statt.
Als die krampfartigen Anfälle zunehmen, begibt sich Thelma in ärztliche Behandlung. Erfährt dabei nicht nur, dass die Konvulsionen keine körperliche Ursache besitzen, sondern dass ihre Großmutter eine ähnliche Krankengeschichte aufwies. Zudem findet sie heraus, dass die Mutter ihres Vaters keineswegs gestorben ist wie ihr erzählt wurde. Stattdessen paralysiert in einem Heim dem Tod entgegen dämmert.
Dann verschwindet Anja spurlos und Thelma flieht zurück in ihr Elternhaus. Um dort endlich herauszubekommen, was es mit ihren Alpträumen, Visionen und außergewöhnlichen Fähigkeiten auf sich hat. Es wird eine schmerzhafte Reise in tödliche Regionen werden, aber auch eine befreiende.
Joachim Trier hat mit “Thelma” eine Coming Of Age-Geschichte der besonderen Art inszeniert. Nicht nur wird vom Erwachsen werden einer jungen Frau erzählt, dem Abschied nehmen vom Elternhaus, vom Erwachen ihrer Sexualität, sondern von einer spirituellen Befreiung, die weitreichende Folgen hat. Religion ist wieder einmal ein Hemmnis, das die Kräfte und Möglichkeiten des Besonderen nicht erkennt und deshalb nicht zulässt. Thelma muss sich ihrer selbst erst bewusst werden, bevor sie die Fesseln abstreifen und ihrer einengenden Heimat endgültig den Rücken zukehren kann. Nicht in einem fröhlichen Akt, der freudig verkündet: “Hoppla jetzt komme ich”. Es ist ein radikaler Schritt, der seine Opfer fordert. Die nicht unschuldig sind an ihrem Schicksal.
“Thelma” ist allerdings ein zu kluger Film, um eindeutige Unschulds- und Schuldzuweisungen zu erheben. So sind Thelmas durchaus liebevolle Eltern keine fanatischen Kleriker, die ihre Tochter klein und unmündig halten wollen. Es ist Besorgnis, Unverständnis und eine verschrobene Art der Nächstenliebe, die sie zu radikalen Maßnahmen schreiten lässt. Thelma hingegen ist zunächst ein Spielball ihrer Befähigungen, die großen Schaden anrichten können, wenn sie unwissentlich eingesetzt werden.
Alles dreht sich um Erkenntnis, Akzeptanz und Verantwortung, sich selbst und anderen gegenüber. “Thelma” packt das in atemberaubende Bilder und präzise Dialoge, wird zu keinem Zeitpunkt ein plakativer Thesenfilm. Unheimliche Atmosphäre wird erzeugt durch ein passgenaues Zusammenspiel von Akteuren, Bildern und Musik. Auf Jump Scares wird komplett verzichtet, dass Grauen schleicht auf leisen Sohlen herum und nährt sich aus Ungewissheit. Der Soundtrack von Ola Fløttum ist kongenial und auch ohne den Film ein Genuss. Es gibt ihn leider nur digital käuflich zu erwerben, das ist aber dringend angeraten.
Die schauspielerischen Leistungen sind ebenfalls famos, innerhalb eines hervorragenden interagierenden Ensembles ist Elli Harboe als Thelma die perfekte Wahl. Sie vermittelt Zerbrechlichkeit und Stärke mit einer Selbstverständlichkeit, die nervtötende Untertöne nicht zulässt und Overacting vermeidet.
Es ist sehr bedauerlich, dass “Thelma” nur einen kurzzeitigen und meist auf kleinere Programmkinos beschränkten Kinoeinsatz bekam. Die faszinierende Bilderwelt des Films ist geschaffen für die große Leinwand. Doch auch auf Blu-ray (oder DVD), mit einer gescheiten Heimanlage zur Unterstützung, bewahrt “Thelma” seine Magie. Intelligentes, sinnliches Kino von unheimlicher Schönheit.
Cover & Szenenfotos © Koch Media
- Titel: Thelma
- Originaltitel: Thelma
- Produktionsland und -jahr: Norwegen, Frankreich, Dänemark, Schweden 2017
- Genre: Drama, Mystery, Psychothriller, Liebesfilm
- Erschienen: 23.08.2018
- Label: Koch Media
- Spielzeit:
116 Minuten auf DVD
121 Minuten auf Blu-Ray - Darsteller:
Elli Harboe
Kaya Wilkins
Henrik Rafaelsen
Ellen Dorrit Petersen u.a. - Regie:
Joachim Trier - Drehbuch:
Joachim Trier, Eskil Vogt - Kamera:
Jakob Ihre
Musik:
Ola Fløttum - Extras:
Trailer, Trailershow, Interviews - Technische Details (DVD)
Video: 2.40:1 (16:9)
Sprachen/Ton: Deutsch, Norwegisch, Dolby Digital 5.1
Untertitel: Deutsch - Technische Details (Blu-Ray)
Video: 2.40:1 (16:9)
Sprachen/Ton: Deutsch, Norwegisch, DTS HD-Master Audio 5.1
Untertitel: Deutsch - FSK: 12
- Sonstige Informationen:
Produktlink Blu-Ray
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Wertung: 13/15 (Alp)traumwelten