Eine kleine Reise zurück zu Marvels Anfängen: In den 30er Jahren begann Lee bei einem kleinen Verlag namens Timely Comics, dem Vorvorgänger von Marvel. Nach verschiedenen Umwegen erblickten 1961 die Fantastischen Vier das Licht der Comicwelt, und schon ein Jahr später folgten Hulk, Spider-Man, Thor und Ant-Man. Zu dieser Zeit dominierte DC den Markt, doch mit dieser neuen Generation von Comichelden wurde Marvel der neue Stern am Firmament der Comicverlage. Mit verschiedenen Höhen und Tiefen ist das bis heute so geblieben. Das “Haus der Ideen”, wie Fans und Autoren gleichermaßen gerne von Marvel sprechen, sorgt für volle Kinosäle und lockt nach wie vor Jugendliche und Junggebliebene Woche für Woche in den Bahnhofskiosk.
Natürlich hat Stan Lee all das nicht alleine aus dem Boden gestampft. Einer der großen Wegbereiter des Superheldencomics, wie wir es heute kennen und lieben, war Jack Kirby, ein Zeichner aus New York, der schon zu seinen Schaffenszeiten den Beinamen “King of Comics” trug. Der 1917 geborene Jacob Kurtzberg hob als ersten eigenen Superhelden “Blue Beetle” aus der Taufe, das war noch vor Captain America. Lee und Kirby waren jahrelang das Dreamteam unter den kreativen Comicschöpfern. Lee gab einen groben Handlungsrahmen vor, und Kirby wurde kreativ. Am Schluss setzte Lee in die Sprechblasen die Dialoge ein. Besonders der Donnergott zählte zu Kirbys Lieblingen: “Ich liebte Thor, weil ich Legenden liebte.” Jack Kirby verstarb 1994 und gilt als einflussreichster amerikanischer Comiczeichner.
Gegen die Steinmenschen des Saturn
Weil Lee mit den anderen Serien zu beschäftigt war, wurde die erste offizielle Thor-Geschichte übrigens von seinem Bruder Larry Lieber und Kirby verfasst. In “Journey Into Mystery” Nr. 83 kämpfte der Donnergott 1952 gegen seltsam anzuschauende Aliens. Beginnend mit diesem Fossil der Comickunst erwarten den Leser im vorliegenden Band 13 Geschichten aus der beeindruckenden Karriere des goldgelockten Asen.
Vom Kampf gegen den Wrecker bis zur Götterdämmerung Ragnarök (1966er Thor-Jahrgang, Ausgabe 149-157)
Der Kampf des geschwächten Donnergottes ohne seine göttlichen Kräfte gegen den Wrecker, einen gewöhnlichen Verbrecher, der versehentlich Lokis Kräfte bekommen hat, stellt einen der Höhepunkte in Lees und Kirbys Arbeit dar. Lee läuft in puncto charmante Übertreibungen zu Höchstform auf: “Lee & Kirby – Ein mäanderndes Monument mächtiger Marveliten”. Thor hadert mit der Todesgöttin und kämpft gegen den Zerstörer (eine Figur, die auch im Filmuniversum bereits als Gegner auftauchte).
Kirby und Lee bauten das Marvel-Universum kontinuierlich aus, und so verwundert es nicht, dass auch viele alte Bekannte in einem Band über Thor nicht fehlen dürfen: Der edle Balder kämpft gegen Ulik, den mächtigsten der Trolle, und die schöne Sif steht Thor zur Seite. Volstaag, Fandral und Hogun der Grimme sind eine reine Fantasieschöpfung, und treuen Lesern von Thors Geschichten dennoch wohl vertraut. Auch wenn die Sprache der heutigen Leserschaft mitunter etwas gestelzt erscheint, was zum einen an Thor als Figur und zum anderen am Alter der Geschichten liegt, lesen sich die meisten nach kurzer Eingewöhnung spannend und folgen dem gleichen Muster wie aktuelle Abenteuer. Die Figuren sprechen unnötig oft das Offensichtliche aus (“… niemand kann mich finden!… Denn mich umgibt die Aura der Unsichtbarkeit” sagt der offensichtlich durchsichtige Loki), doch das sind kleine Schönheitsfehler ansonsten hervorragend gealterter Comics. Das ist durchaus nicht selbstverständlich.
Der Mythos um die Asen und den gesamten von mächtigen Überwesen bevölkerten Kosmos wurde immer weiter ausgebaut, und auch diese kleinen Seitenverweise auf noch gänzliche andere Parteien machen den Band zu einem wunderbaren Schmöker. Da tauchen die Kolonisatoren auf, da wird der lebende Planet Ego vom Recorder befragt (bekannt aus den Guardians of the Galaxy Verfilmungen). Den unbestreitbaren Höhepunkt dieser frühen Geschichten stellt der lange Kampf gegen das Überwesen Mangog dar, welches die Götterdämmerung zu bringen droht. Auch heute noch liest sich der Kampf der Asen gegen Odins Geschöpf wie ein Krimi.
Thors ewiger Widersacher und Kirbys Fußstapfen
Natürlich darf Loki bei all dem nicht vergessen werden, denn was ist ein Held ohne einen würdigen Erzfeind? Die Geschichte um Loki, der versucht, Thors Kräfte und dessen Geburtsrecht an sich zu bringen, bringt Kirby leider nie zu Ende, da sich Lee und Kirby zerstreiten. Diese wechselt daraufhin zu DC. Neal Adams ist der Mann der Stunde und springt in die Bresche. Durch anatomisch detailliertere Zeichnungen und einen beginnenden Realismus, wie er heute in Superheldencomics üblich ist, wird eine neue Ära eingeleitet. Adams ist bekannt für seine Werke bei DC und gilt als herausragender Batman-Zeichner. Während seiner Zeit bei Marvel profitierten die Avengers und die X-Men gleichermaßen von Adams’ Talent.
Ein großer Pluspunkt des Bandes sind die eingestreuten Zwischenseiten zum aktuellen Stand der Comicbranche und den sich verändernden Personalien im Laufe der Jahre. Als ein kleines redaktionelles Manko empfinde ich die fehlende durchgängige Seitennummerierung, zumal das Inhaltsverzeichnis darauf verweist.
Fazit
Für knapp 25 € bekommen Comicfans der alten (und jüngeren) Generation 260 Seiten hervorragende Unterhaltung geboten, die man an einem Wochenende oder auf einer langen Zugfahrt gar nicht mehr aus der Hand legen mag. Die Geschichten sind fesselnd, und die etwas naive Art der frühen Geschichten wird nach kurzer Zeit gar nicht mehr bemerkt. Wer Thor mag, sollte zugreifen – wer mit dem edlen Asen noch nie so viel anfangen konnte, greift besser zu moderneren Geschichten als Einstieg.
Wertung: 13/15
Cover © Panini Comics
- Produktseite beim Verlag
- Erstveröffentlichung: 17.10.2017
- Format: Softcover
- Seiten: 260
- ISBN: 978-3-7416-0388-4
- Autor: Stan Lee
- Zeichner: Jack Kirby; Neal Adams
- Storys:
Journey into Mystery 83 (1952)
Mighty Thor (1966) 149-157; 179-181