Tolstoi lebte von 1828 bis 1910 und war der wohl russischste Autor den es je gab. Schon Zeitgenossen nannten ihn den alten Weisen und in der Retrospektive gewinnt dieser Beiname weiter an Bedeutung. Bereits mit seinem Erstlingswerk hatte der junge Tolstoi großen Erfolg. Darauf folgten ausgedehnte Reisen durch Europa und schließlich die Hochzeit mit der 16 Jahre jüngeren Sofja Andrejewna Behrs. Mit “Anna Karenina” und “Krieg und Frieden” hat der aus einem russischen Adelsgeschlecht stammende Lew Nikolajewitsch Tolstoi sich selbst unsterblich gemacht.
Russland im Jahre 1805
In “Krieg und Frieden” verarbeitet Tolstoi die Napoleonischen Kriege, in die sich Russland 1805 einzugreifen entschließt. Napoleon drang im Anschluss mit einer riesigen Armee tief in russisches Gebiet ein und besetzte beziehungsweise plünderte schließlich sogar Moskau, das von dessen Einwohnern weitestgehend geräumt worden war. Der Befehlshaber der russischen Streitkräfte setzte auf den einbrechenden Winter, und tatsächlich muss sich die französische Armee unter erheblichen Versorgungsengpässen und schrecklichen Verlusten quälend langsam und im Kreuzfeuer russischer Streitkräfte und Partisanen wieder zurückziehen. Eine vernichtende Niederlage für den vom Erfolg verwöhnten Napoleon.
Im Verlauf der Handlung begleitet Tolstoi wechselnd drei Familien und beschreibt deren Erlebnisse in den unsicheren Kriegszeiten. Der Hörer erlebt eine Unzahl an Schauplätzen und ist zu Gast bei historischen Ereignissen wie etwa dem großen Brand von Moskau, der rückblickend den Anfang vom Ende für Napoleons Armee während des Russlandfeldzugs bedeutete. Tolstoi schildert eindrücklich, wie die Russen mit der Entscheidung ringen, Moskau nicht den Franzosen zu überlassen und zu flüchten, um später zurückzukehren. Neben den für heutige Verhältnisse distanziert geschilderten Kriegsschauplätzen erlebt der Hörer rauschenden Soiréen und ist zu Gast bei der damaligen Elite der Gesellschaft, um deren Probleme zu erleben: Graf Pierre eine der Hauptfiguren geht eine Ehe zu einer Frau ein, die er nicht liebt, da die Verbindung seiner Familie zweckdienlich zu sein scheint, und sein Freund Fürst Andrej ist unglücklich in die sechzehn Jahre alte Natascha verliebt, die jedoch erst ein ganzes Jahr später einwilligen darf. Eine Zeit, die insbesondere in unruhigen Zeiten so manche Veränderung bringen kann.
Die vorliegende Höspielbearbeitung wurde 1965 von dem 2002 verstorbenem Schauspieler Gert Westphal umgesetzt, der im Verlauf seiner Karriere unter anderem selbst als Hörspiel-Sprecher arbeitete und Chef der Hörspielabteilung bei Radio Bremen und dem Südwestfunk in Baden-Baden war. Die aufwändige Inszenierung des Romans kürzt das Werk erheblich und hat dennoch einen Umfang von etwas mehr als acht Stunden. Zum Ensemble der Sprecher gehören bekannte Namen wie Klaus-Jürgen Wussow und Marius Müller-Westernhagen
Gereift und nicht gealtert?
Obwohl die Sprache insbesondere jüngeren Hörern mitunter etwas gestelzt vorkommen dürfte, ist die Handlung spannend und erinnert ein wenig an aktuelle historische Romane, die das Schicksal ganzer Familiendynastien im historischen Wandel beleuchten. Den größten Teil der Geschichte bewegt der Hörer sich in gehobenen gesellschaftlichen Kreisen, und diese Perspektive ist den Romanfiguren auch anzumerken. Es geht in der Regel nicht ums nackte Überleben, sondern um Liebe, Erfüllung, den sozialen Stand und das Reagieren darauf, dass sich von jetzt auf gleich alles verändern kann. Themen die damals wie heute Jung und Alt beschäftigen. Der Hintergrund der napoleonischen Kriege ist eine interessante historische Epoche, über deren genauen Ablauf manch einer abseits des länger zurückliegenden Geschichtsunterrichtes noch nicht so viel gehört oder gelesen haben mag.
Atmosphärisch dicht
Neben den hervorragenden Sprechern, die der Handlung und den stellenweise für heutige Hörgewohnheiten kantigen Dialogen Leben einhauchen, sind die verschiedensten Szenen mit atmosphärischen Hintergrundgeräuschen untermalt. Hier spielt die Inszenierung das volle Potential des Mediums Hörspiel aus. Ein „einfaches“ Hörbuch könnte den Klassiker kaum so zu neuem Glanz verhelfen.
Das Auge hört mit
Die Verpackung der zehn CDs in einer dezent gestalteten Pappbox macht das Hörspiel zu einem guten Geschenk, und die vielen Hintergrundinformationen im beiliegenden Booklet zum Autor, den Mitwirkenden und dem historischen Kontext, sowie nicht zuletzt zur Geschichte inklusive einer Vorstellung der wichtigen Figuren helfen erheblich, sich zu orientieren, wenn man wieder einmal zu verwechseln droht, dass jener Graf mit dieser Adelstochter angebandelt hat und nicht etwa mit der reichen Gutsbesitzerin. In Krieg und Frieden steckt eben nicht gerade wenig Kabale und Liebe.
Fazit
Insbesondere wenn man bedenkt, dass auch diese Inszenierung schon älter als 50 Jahre ist, muss man den Hut davor ziehen, mit welchem Aufwand Gert Westphal für den WDR Tolstois Jahrhunderoman in Szene gesetzt hat. Speziell der eine oder andere „Regiekommentar“ ist heutzutage etwas angestaubt in der Präsentation. Die Inszenierung an sich ist jedoch eine gute Gelegenheit für alle die sich Tolstoi näheren wollen ohne sich die epische Breite der Buchform zuzutrauen.
Cover © der Hörverlag
Übersetzung: Marianne Kegel
Originalverlag: Winkler Verlag/Bibliographisches Institut
Bearbeitung: Gert Westphal
Sprecher: Klaus-Jürgen Wussow, Volker Brandt, Gustl Halenke, Heinz Bennent uvm.
Anzahl der Medien und Laufzeit: 10 CDs, 486 min
ISBN: 978-3-8445-2050-7
Verlag: der Hörverlag
Erschienen: 28.11.2016
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