Stronger (Spielfilm, DVD/Blu-ray)

Noch ein Film über den Anschlag auf den Boston-Marathon? Braucht es den wirklich? Die Antwort lautet leider: Ja! Denn „Boston“ ließ seinerzeit zu viele Themen unangetastet, die nicht in die filmgewordene Ehrung der Helden und die (gutgemeinte) patriotische Message von Regisseur Peter Berg passten. „Stronger“ macht es besser, indem der Film den kollektiven Trauerprozess, den die US-AmerikanerInnen so liebgewonnen haben, in seiner Event- und Medienversessenheit kritisiert, der das individuelle Schicksal gerne zugunsten des Kollektivs ausschlachtet. Am Ende fasziniert, wie David Gordon Green dennoch das Kunststück vollbringt, dass bei all der ungeschönten, teils brutalen Wahrheit letztendlich doch der patriotische Kitsch überwiegen kann.

„Stronger“ erzählt die reale Geschichte von Jeff Bauman, die ohne Zweifel das Prädikat „filmreif“ verdient. Jeff (Jake Gyllenhaal) steht in der Zuschauermenge an der Ziellinie, um seiner (Ex-)Freundin Erin Hurley (Tatiana Maslany) zuzujubeln, die am Boston-Marathon 2013 teilnimmt. Er sieht einen verdächtigen Mann und schaut ihm ins Gesicht, kurz bevor die Bombe detoniert. Bauman ist einer der Opfer, die durch den selbstgebauten und deswegen tückischen Sprengsatz einen Großteil ihrer Beine verlieren. Sein Leben wird ihm von einem Unbekannten gerettet, doch die Ärzte können seine Unterschenkel nicht retten. In der Folge fokussiert sich „Stronger“ auf den Heilungsprozess, der für Jeff zur (mindestens) doppelten Belastung wird.

Die US-amerikanische Gesellschaft macht sich Baumans Geschichte zu eigen und findet im privaten, individuellen Aufbauprogramm ein Symbol für die eigene Therapie. Jeff Bauman wird auch durch seine Täterbeschreibung, die die Ermittlungen zum Erfolg führen, mit dem Motto „Boston Strong“ in Deckung gebracht, wird bejubelt und genießt einige Privilegien. Doch die Person Jeff Bauman verschwindet zunehmend hinter dem Symbol, zu dem er gemacht wird und von ihm überdeckt. Seine Prominenz scheint ihm zunächst kaum zu helfen, eher fühlt er sich von ebendieser überwältigt, in seiner Privatsphäre beschnitten und hat mit Motivationsschwierigkeiten zu kämpfen.

Durch die öffentlich verkürzte Wahrnehmung und die Entscheidung, keinerlei Interviews zu geben, konnte sich Bauman erst durch seine Autobiographie erklären, auf der der Film basiert. Erst durch sie wird ersichtlich, was den jungen Mann zu Jeff Bauman machte: Seine Familie, seine schwierige Beziehung zu seiner Freundin, sein umtriebiger Charakter, all das wird durch Buch und Film sichtbar. Hierin findet das Material seine Stärke, denn der schonungslose Einbezug von Krisen und Fehlern verleiht der recht vorhersehbaren Handlung Tiefe und Menschlichkeit.

„Stronger“ ist gegenüber „Boston“ der liberalere Film und feiert ein Amerika, in dem ein Anschlagsopfer ohne viel Tamtam von der Versicherung seines Arbeitgebers profitiert. Woran es Bauman nämlich nicht fehlt, sind Probleme. Er ist ein Durchschnitts-Amerikaner, wie er lange von der Politik ignoriert wurde. In seiner Familie gehören Streitigkeiten und Alkohol genauso zur Tagesordnung wie das Sich-Wieder-Zusammenraufen und die ungebremste Sportverrücktheit. Die Verhältnisse sind dysfunktional und etwas asozial, weswegen auch Jeff in all seinen guten Absichten immer auch unzuverlässig bleibt.

Dass er in einer On-/Off-Beziehung mit der aus besseren Verhältnissen stammenden Erin zusammen ist, verkompliziert die Situation ungemein. Jeffs Mutter, mit der der Sohn im Alter von Mitte 20 noch immer zusammenlebt, sieht in der Freundin eine Konkurrentin, Erin in Jeff einen Menschen, den sie trotz ihrer Beziehungsprobleme nicht fallen lassen möchte. So kommt es, dass Jeff sich bei ihr Kredit erspielen möchte, indem er sie nach einer Zeit der Funkstille an der Ziellinie empfängt. In der Folge beschleichen Erin Schuldgefühle, doch diese Reaktion zeigt eine der zahlreichen perversen Facetten, die der Film in Terrorakten ausfindig macht.

Der wahre Horror eines Anschlags liegt nämlich in seinen Auswirkungen auf die körperliche und seelische Verfassung der Opfer und ihren Angehörigen, die, in Sekundenbruchteilen erlitten, ein ganzes Leben belasten. Das zeigt „Stronger“, indem das zu erwartende Zurückkämpfen ins Leben nicht nur aus Szenen des Reha-Prozesses besteht, sondern im Besonderen die gesamte Familie und ihren Umgang mit ihrem Jeff in den Mittelpunkt gestellt wird. Dieser ist hilflos, aber genau darin besteht der Horror: Niemand ist auf solch eine Extremsituation vorbereitet.

Auch das betroffene Kollektiv des US-amerikanischen Volkes nahm 2013 Schaden und suchte händeringend nach Therapien. In der sportverrückten Stadt Boston wurden schnell andere Sportarten aktiviert, um das Marathon-Trauma zu abzuarbeiten. Jeff wird zu einem Eishockey-Spiel der Bruins als Ehrengast eingeladen, später darf er dann den ersten Pitch im Stadion seiner Lieblingsmannschaft, der Baseball-Mannschaft Boston Red Sox werfen. Gerade diese Massenaufkommen in Event- und Showform sind es, die Jeff fertig machen, weil ihm dort die Symbolik seiner Geschichte besonders klar vor Augen geführt wird.

Was er aber erst später nach privaten Grenzerfahrungen begreift, ist, dass er nicht nur anderen hilft, sondern auch ihm durch „Boston Strong“ geholfen wird. Auf eindrucksvolle Weise wird diese Verbandelung im Treffen mit seinem Retter deutlich, dass sich für Jeff zu einer schmerzhaften Therapiesitzung entwickelt, die er lange vor sich herschob, die ihm dann aber eröffnet, dass die Wechselseitigkeit tatsächlich heilende Wirkung haben kann. Das gilt sowohl für die Beziehung zwischen zwei Versehrten als auch zwischen Gesellschaft und Individuum. Jeff nimmt seine Rolle an.

Das sind Erkenntnisse, die sich jede(r) AmerikanerIn bewusst machen sollte, gerade in den momentan krisenhaften Zeiten der internen Spaltungsversuche. Doch trotz der Bemühungen um die Offenlegung der schonungslosen Wahrheit und der Arbeit mit Grautönen, entgleitet David Gordon Green sein Film ein ums andere Mal. Dass Jeff sich am Rande seiner geistigen Gesundheit befindet, braucht nicht extra durch einen höchstdramatisch inszenierten Flashback unterstrichen zu werden, bei dem der sonst fantastisch aufspielende Jake Gyllenhaal alle Hemmungen fallen lassen soll. Die kitschige Musik ist größtenteils völlig unnötig und verleiht „Stronger“ einen unpassenden Vibe. Nicht jede Szene ist unverzichtbar.

Das größte Problem liegt aber sicherlich in der philosophischen Frage, auf welche Moral der Film enden soll. Sinn aus einem völlig sinnlosen Ereignis wie einem Anschlag ziehen zu wollen, ist einem dem Menschen eingeschriebene Reaktion, die in den USA gerne mit einer Rückbesinnung auf uramerikanische Werte einhergeht. Wohin dieser Patriotismus führen kann, zeigen die politischen Veränderungen, die sich seit 2013 ereignet haben. Auch wenn die Medien ihr Fett wegbekommen, so erteilt der Film über die unumwundene Akzeptanz Jeffs für seine Rolle dem Trauerprozess auch Legitimation. Letztendlich wird das Jubeln über den Tod der Terroristen nicht adäquat eingeordnet.

Immer wieder wird der besondere Geist der BostonerInnen beschworen, der durch die teilweise Besetzung mit LaiendarstellerInnen außergewöhnlichen Eingang in den Film findet. Das hätte gereicht, doch „Stronger“ entwickelt sich dann doch zu einer höchstamerikanischen Angelegenheit. Zwar arbeitet der Film selbstreflexiv, doch die entscheidenden Denkschritte geht er nicht. Muss man sich nun einfach damit abfinden, dass „Stronger“ ein Artefakt ist, an dem sich die Eigenheit der AmerikanerInnen im Unterschied zur eigenen Herkunft erforschen lässt? Das greift zu kurz, denn es reicht nicht sich auf die bekannten Mechanismen zu verlassen. Diese mögen sich bewährt haben, doch über die komplexen Wechselbeziehungen und Auswirkungen wird zu selten kritisch nachgedacht. Da macht auch „Stronger keinen entscheidenden Unterschied.

Fazit: „Stronger“ ist moralisch allemal konsistenter als „Boston“, doch auch diese Bearbeitung des Anschlags auf den Boston-Marathon 2013 stolpert über seine Kernaussage. Trotz der wichtigen Kritik am kollektiven Trauerprozess wird dieser am Ende doch als wertvoll bezeichnet und in den wirklich wichtigen Implikationen nicht ausreichend hinterfragt. Jeff Bauman bekommt nach seinem Buch nun auch in Filmform eine Stimme verliehen und wird als die Person hinter „Boston Strong“ ausgeleuchtet. Dennoch bleibt der Verdacht, dass der Patriotismus zwar in Krisenzeiten zusammenschweißt, letztendlich aber ebenso als Argument für die aktuell dramatische politische Situation herangezogen werden kann.

Cover und Szenebilder © Arthaus

  • Titel: Stronger
  • Produktionsland und -jahr: USA 2017
  • Genre:
    Biografie
    Drama
  • Erschienen: 06.09.2018
  • Label: Arthaus
  • Spielzeit:
    119 Minuten auf 1 DVD
    119 Minuten auf 1 Blu-Ray
  • Darsteller:
    Jake Gyllenhaal
    Tatiana Maslany
    Miranda Richardson
    Clancy Brown
  • Regie: David Gordon Green
  • Drehbuch: John Pollonok, Buchvorlage: Jeff Bauman & Bret Witter
  • Kamera: Sean Bobbitt
  • Extras:
    Featurette “Glaube, Hoffnung, Liebe”, Trailer
  • Technische Details (DVD)
    Video:
    2,40:1 anamorph
    Sprachen/Ton
    :
    D, GB
    Untertitel: 
    D
  • Technische Details (Blu-Ray)
    Video:
    2,40:1 1080/24p Full HD
    Sprachen/Ton
    :
    D, GB
    Untertitel:
    D
  • FSK: 12
  • Sonstige Informationen:
    Produktseite

Wertung: 9/15 dpt

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