Story:
Es ist Heiligabend, als Édouard auf der Pariser Place de la République den jungen Immigranten Reda kennenlernt und spontan zu sich nach Hause einlädt. Zwischen den beiden entspinnt sich eine zarte Romanze, die jedoch im Laufe der Nacht umschlägt und in Gewalt endet: Reda raubt Édouard aus, bedroht ihn mit einer Waffe und vergewaltigt ihn. Für letzteren beginnt eine wahre Odyssee – geprägt von Polizeibeamten, Ärzten und Untersuchungen, die alle an der Nacht rühren, die Édouard am liebsten vergessen will …
Eigene Meinung:
Mit Das Ende von Eddy gelang dem französischen Shootingstar Édouard Louis eine Sensation – der autobiografische Debütroman über seine Kindheit in einem nordfranzösischen Dorf und seine Flucht aus den festgefahrenen Verhältnissen, den dort vorherrschenden Homophobie und dem Rassismus machte ihn über Nacht bekannt. Das Buch wurde in 30 Länder übersetzt, mehrfach ausgezeichnet und war die Inspiration des Films Marvin. Auch in seinem zweiten Roman Im Herzen der Gewalt verarbeitet der Autor ein autobiografisches Ereignis, das sein Leben von Grund auf veränderte: eine Vergewaltigung und ein Nahtoderlebnis.
Die Geschichte wird dabei nicht direkt aus seiner Sicht erzählt, sondern von seiner Schwester Reda, die ihrem Mann von den Ereignissen des Heiligabends und den Tagen und Wochen danach berichtet. Édouard selbst steht als stummer Beobachter an der Tür und belauscht die Unterhaltung, die natürlich von den Gefühlen und Gedanken seiner Schwester durchsetzt ist – so schweift Clara immer wieder ab und fügt zusätzliche Anekdoten und Kommentare ein, die sich meist auf Édouards Kindheit und Jugend beziehen und die stark von dem unterschwelligen Rassismus des kleinen Ortes geprägt sind. Dadurch erfährt der Leser mehr von den Menschen, vor denen Édouard einst geflohen ist – und zu denen er, paradoxerweise, nach den schrecklichen Ereignissen zurückkehrt.
Neben dieser Erzählerstimme, fügt Édouard seine eigenen Gedanken hinzu, teils berichtigt er seine Schwester Clara in Gedanken, teils führt er die Erzählung weiter aus und gibt dem Leser zusätzliche Einblicke zu dem, was er erlebt hat: zur Begegnung mit Reda, ihrer Zweisamkeit und dem plötzlichen Umschlagen der Atmosphäre, als Édouard sein Handy sucht und Reda als Dieb enttarnt. Dabei greift er mitunter in der Handlung vor, webt bereits die Gespräche mit der Polizei und den Ärzten ein, was dafür sorgt, dass die Geschichte zu Beginn sehr konfus wirkt und man als Leser zwischendurch den Überblick verliert. Édouard Louis verweigert sich einer chronologischen Berichterstattung, sondern erzählt die Ereignisse so, wie sie ihm richtig erscheinen und wie er sie erzählen muss, um sie selbst verarbeiten zu können, denn das scheint eines der Ziele des Autors zu sein: der Versuch mit der Gewalt klarzukommen, die ihm am Heiligabend und in den Tagen danach wiederfahren ist. Dabei bezieht sich die Gewalt nicht nur auf die Ereignisse mit Reda, sondern auch auf das, was Édouard Louis in den folgenden Tagen passiert – die Begegnungen mit Polizisten und Beamten, Ärzten und Psychologen, denen er immer wieder erzählen muss, was passiert ist, bis er sich „seiner eigenen Geschichte beraubt“ fühlt und kaum mehr den Eindruck hat, selbst Entscheidungen zu treffen. Zudem wird er mit dem Rassismus der Institutionen konfrontiert und muss erkennen, dass dieses Erlebnis ihn selbst zu einem Rassisten macht, denn er hat zunehmend Angst vor Männern, die nicht dem typisch europäischen Bild entsprechen. Da er in Das Ende von Eddy vor ebensolchen Ansichten geflohen ist, wirkt dieses Eingeständnis doppelt so schwer und regt zum Nachdenken an.
Stilistisch legt Édouard Louis große Literatur vor, für die man sich Zeit nehmen muss, denn sie ist nichts für zwischendurch. Als Leser muss man bereit sein, sich auf das Buch einzulassen, auf die Geschichte und die Ereignisse; auf die mitunter chaotische Erzählstruktur und die endlosen Schachtelsätze. Hat man erst einmal den Zugang zum Buch gefunden, taucht man tief in Édouard Louis‘ Erzählung ein, erlebt das Auf und Ab der Geschichte, aber auch der Gefühlswelt des Autors und erhascht einen tiefen Einblick in die menschliche Natur. Édouard Louis – bzw. im Deutschen sein Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel – weiß dabei mit Worten umzugehen, sein Roman bewegt sich sprachlich auf hohem Niveau und ist wie sein Debüt Das Ende von Eddy ein empfehlenswertes Buch.
Fazit:
Im Herzen der Gewalt bietet keine leichte Lektüre und ist aufgrund der ernsten Thematik nicht für jeden Leser geeignet. Wer jedoch Édouard Louis‘ Debüt mochte und die Art wie er autobiografische Erlebnisse in seinen Romanen verarbeitet, dem wird sein zweites Werk ebenfalls gefallen, ist es doch noch persönlicher und tiefgehender als Das Ende von Eddy. Der Autor berichtet auf sprachlich hohem Niveau von Gewalt in allen Facetten, von der Machtlosigkeit gegenüber den staatlichen Institutionen und den Gedanken, Gefühlen und Ängsten, mit denen sich Opfer in den Wochen nach einer solch schrecklichen Tat herumschlagen müssen. Édouard Louis ist einmal mehr ein Roman gelungen, der berührt und der lange nachhallt.
Cover © S. Fischer
- Autor: Édouard Louis
- Titel: Im Herzen der Gewalt
- Originaltitel: Histoire de la violence
- Übersetzer: Hinrich Schmidt-Henkel
- Verlag: S. Fischer
- Erschienen: 08/2017
- Einband: Hardcover
- Seiten: 224
- ISBN: 978-3-10-397242-9
- Sonstige Informationen:
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Wertung: 12/15 dpt