“Leichen unter brennender Sonne” (“Laissez bronzer les cadavres”) ist der dritte Langfilm von Helene Cattet und Bruno Forzani. Sezierten “Amer” und “Der Tod weint rote Tränen” den Giallo, so kommen jetzt verstärkt Einflüsse des Polizieschi und des Italowesterns hinzu. Nicht zu vergessen der Schatten des großen Alejandro Jodorowsky.
Grundlage des Films ist Laßt die Kadaver bräunen!” (“Laissez bronzer les cadavres!”, 1971), das Debüt des französischen Noir-Autors Jean Patrick Manchette (mit Jean-Pierre Bastid), er das literarische Fundament und Meilenstein des Neo-Polar ist. Nach dem Überfall auf einen Geldtransporter flüchten der Gangster Rhino und zwei Komplizen mit 250 Kilo Gold im Gepäck in ein zerfallendes Küstendorf Dort haust die Künstlerin Luce mit ihren Lovern. Zu denen der ausgelaugte Autor Max Bernier gehört.
Auf der Flucht laden die Gangster zwei Frauen und ein Kind auf, deren Ziel zufälligerweise ebenfalls das ominöse Dorf ist. Rhino und seine Partner wollen versteckt darauf warten, dass sich die Lage nach dem brutalen Überfall beruhigt. Das trampende Trio ist in Familienangelegenheiten unterwegs (der Autor Max ist der Kindsvater) und Luce kämpft um Inspiration. Als zwei Motorradpolizisten in dem abgelegenen Ort auftauchen, eskaliert die Lage in Windeseile. Ein langer, blutiger Showdown in glühender Hitze beginnt, der am Ende kaum Überlebende kennen wird.
Wieder einmal wird der Vorwurf von “style over substance” laut und geht weit an den “Leichen unter brennender Sonne” vorbei. Es stimmt, die Filme von Cattet und Forzani sind überaus stilisiert, aber sie besitzen auch die Substanz, welche dies erlaubt und vielleicht sogar einfordert. An einer textorientierten Literaturverfilmung sind die Filmemacher nicht interessiert, sie zerlegen die Vorlage in ein ausgefeiltes Produkt aus Bildern und Tönen und setzen sie gekonnt wieder zusammen. Es gelingt ihnen so, die Vorlage passgenau ins andere Medium zu übertragen.
“Leichen unter brennender Sonne” erzählt von Todgeweihten, die sich ein letztes Mal aufbäumen. Eros, Verzweiflung, Wahnsinn und gewaltsames Sterben prägen die Szenerie, wobei sich die ersten Schüsse, die blutrote Fontänen auf der Leinwand platzen lassen, als Kunstperformance erweisen. Menschliche Körper werden erst später penetriert – nach den Erinnerungen an rauschende Feste und versiegende Schaffenskraft.
Goldstaub explodiert über nackten Körpern, Schweiß, Urin und Blut fließen. Dazwischen immer wieder: Blicke, weitaufgerissene Augen, die starren aber wenig sehen. Cattet und Forzani arbeiten viel mit extremen Großaufnahmen, steigern den Augenfetisch des Italo-Westerns ins Extrem. Dem Zuschauer bleibt es überlassen, die Blicke zu deuten.
Magischer Realismus, Alptraumlogik, Stillstand und höchste Geschwindigkeit, wenn Kugeln einschlagen. Trotz – oder gerade – wegen der Vielzahl an Close-Ups, von den detaillierten Verwüstungen, die Waffen anrichten, mutieren die “Leichen unter brennender Sonne” nie zur ungehemmten Splatterorgie. Denn das Momentum der Abstraktion schwebt über jedem gefilmtem Augenblick, jeder Zustand beinhaltet die eigene Analyse, die Auseinandersetzung mit sich selbst. Das beherrschen Helene Cattet und Bruno Forzani wie kaum andere Filmemacher derzeit. Sich dem taumelndem Delirium, einer überbordenden Flut von Bildern, Geräuschen, Klängen und Musik hinzugeben und diesen Zustand gleichzeitig zu durchdringen, filmisch zu verarbeiten. Wenn Geschichten zu erzählen eine Rolle spielt, dann geht es um Zerreißpunkte, Verlust und Versagen, um Momente des Verflüchtigens und der Auflösung. Ein möglicher Neubeginn startet auf einem Leichenberg. Lasst die Kadaver in der Sonne bräunen, was sonst: Der Traumdoktor hat Sprechstunde.
“Leichen unter brennender Sonne” ist die bislang zugänglichste Arbeit des Teams Cattet/Forzani. Hängt mit der kargen existenzialistischen Grundausstattung des zugrundeliegenden Romans zusammen, die den Filmemachern sehr zupass kommt. Ein fiebriger Alptraum voller wohliger Momente, der flirrenden Noir, Polizieschi in seinen Rudimenten, Italo-Western und Alejandro Jodorowsky locker zusammenbringt, vermischt und als artifizielles Glanzstück auswringt. Versehen mit einem elaborierten Sounddesign, das dem Bekunden nach mehr Zeit für die Erstellung benötigte, als die Dreharbeiten selbst. Der Soundtrack bedient sich wieder exzellenter Versatzstücke der Vergangenheit, hier finden Ennio Morricone, Nico Fidenco, Stelvio Cipriani und andere mit Stücken zusammen, die aus Beiträgen für unterschiedliche Genres zwischen Western und Horror stammen, und die klingen als seien sie extra für diesen Film komponiert worden.
Erneut erweisen sich Helene Cattet und Bruno Forzani als kreative Geister, die einer eigenen, wenig massenkompatiblen Vision von Kino folgen. “Every Picture Tells A Story”…
Cover & Szenenfotos © Koch Media
- Titel: Leichen unter brennender Sonne
- Originaltitel: Laissez bronzer les cadavres
- Produktionsland und -jahr: Frankreich, Belgien 2017
- Genre: Neo Polar, Action, Italowestern, Polizieschi, Surrealsimus
- Erschienen: 12.07.2018
- Label: Koch Media
- Spielzeit:
88 Minuten auf DVD
92 Minuten auf Blu-Ray - Darsteller:
Elina Löwensohn
Stéphane Ferrara
Bernie Bonvoisin
Michelangelo Marchese
Marc Barbé
Marine Sainsily
Hervé Sogne
Pierre Nisse
Aline Stevens
Dorylia Calmel
Marilyn Jess - Regie:
Helene Cattet
Bruno Forzani
- Drehbuch:
Hélène Cattet
Bruno Forzani
Roman: Jean-Patrick Manchette, Jean-Pierre Bastid
- Kamera:
Manuel Dacosse - Musik:
Ennio Morricone, Christophe, Nico Fidenco, Stelvio Cipriani, Mario Migliardi, Mino Roli
- Extras:
Trailer - Technische Details (DVD)
Video: 2.35:1 (16:9)
Sprachen/Ton: Deutsch, Französisch, Dolby Digital 5.1
Untertitel: Deutsch, Französisch - Technische Details (Blu-Ray)
Video: 2.35:1 (16:9)
Sprachen/Ton: Deutsch, Französisch, DTS HD-Master Audio 5.1
Untertitel: Deutsch, Französisch
- FSK: 18
- Sonstige Informationen:
Produktlink Blu-Ray
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