«Ich rechnete im Kopf nach. So viele Jahre. So viel Wasser unter der Brücke. So viele verschiedene Orte. Verschiedene Leute.»
Viele Jahre ist es her, dass Jack Reacher den überragenden Scharfschützen John Kott hinter Gitter brachte. Jetzt ist dieser wieder frei und verübt einen Anschlag auf den französischen Präsidenten. Glücklicherweise kann ein spezielles Panzerglas das Schlimmste verhindern, doch Kott bleibt eine Gefahr: Der G8-Gipfel in London steht an und es besteht Grund zur Annahme, dass weitere Staatsoberhäupter auf der Abschussliste stehen. Kann Reacher dem Mörder ein weiteres Mal das Handwerk legen?
Ohne zu spoilern: Aber natürlich kann Reacher das. Denn ein Jack-Reacher-Roman ist wie eine Schachtel Pralinen, auf deren Rückseite steht, was drin ist – man weiß immer, was man kriegt. Das gilt insbesondere, weil es sich hier bereits um den 19. Reacher handelt. Und – nebenbei bemerkt – um den zweiten, der verfilmt wurde. Mit Tom Cruise in der Hauptrolle. Für alle, die Jack Reacher nicht kennen: 1,95 Meter groß, 110 Kilo schwer, Ex-Militär, ein Schrank von einem Mann. Wer könnte ihn also besser verkörpern als Tom Cruise? Nun ja, aber es soll ja hier nicht um den Film gehen, sondern ums Buch.
Wie schon erwähnt, kennt man vor dem Lesen schon den ziemlich genauen Ablauf. Etwas Schlimmes passiert, Jack Reacher – der einzige, der dem Unheil Einhalt gebieten kann – wird gerufen, plötzlich ist er auf sich allein gestellt, wird womöglich vom Jäger zum Gejagten, es gibt viele Schießereien, viele Leichen, Reacher gerät in eine ausweglose Situation, aus der er letztlich doch einen Ausweg findet, alles wird gut, seine Reise geht weiter. Und doch: Es macht durchaus Spaß, einen Reacher-Roman zu lesen. Man muss sich darauf einlassen und akzeptieren, dass es nicht viele Überraschungen geben wird. Einfach den Kopf abschalten und Reachers geballte Männlichkeit auf sich wirken lassen.
Reacher, dieser Eremit. Als Sohn eines Marines in Westberlin geboren, ist er als Erwachsener nirgendwo zu Hause. Er reist umher, hat keinen festen Wohnsitz, kein Eigentum – all das bedeutet ihm nichts und würde ihn nur bremsen. Eine Ausnahme macht er nur bei seinen Schuhen, denn gute Schuhe sind wichtig, sie sagen viel über einen Menschen aus und können im Kampf entscheidend sein. Reachers Blick entgeht nichts, selbst die kleinste Veränderung, die kleinste Gefühlsregung fällt ihm auf. Während seiner Zeit bei der Militärpolizei wurde er zu einer Kampfmaschine ausgebildet. All dies macht ihn zum richtigen Mann für besonders fiese Verbrecher. So auch im Falle von John Kott, den er schon einmal in Gefängnis brachte.
Erzählt wird die Geschichte von Reacher selbst, in der Ich-Perspektive. Neben ihm ist Casey Nice, seine Begleiterin von der CIA, die gemeinsam mit ihm Jagd auf Kott macht, die einzige Figur, die dauerhaft anwesend ist. Da Reacher sich aber mehr auf die Gegebenheiten als auf die Menschen um ihn herum konzentriert, bleibt Casey recht blass. Zwar lernen wir sie ein wenig kennen, insgesamt lässt sich aber keine tiefe Verbindung zu ihr aufbauen. Alle weiteren Charaktere sind im Prinzip nur Beiwerk. Reacher und sein Vorhaben stehen klar im Fokus.
Die Story entwickelt sich zu großen Teilen aus unzähligen Dialogen heraus. Meist wird über das gesprochen, was geschieht. Dabei schleichen sich eine Menge Wiederholungen ein, die den Lesefluss stören und die Geschichte unnötig in die Länge ziehen. Wenn dann aber tatsächlich etwas passiert, mangelt es definitiv nicht an Action und es wird in ordentlicher Reacher-Manier gekämpft, geschossen, draufgehauen. Wer solch schlagkräftigen Plots mag, kann getrost zu diesem oder jedem anderen Roman von Lee Child greifen und wird nicht enttäuscht.
Fazit: „Im Visier“ ist weder ein besonders gutes, noch ein besonders schlechtes Buch. Solide trifft es wohl am besten – ein typischer Reacher eben. Man darf hier kein literarisches Wunderwerk erwarten, sondern muss sich im Klaren darüber sein, dass man es mit einem sehr amerikanischen Action-Thriller fernab der Realität zu tun hat. Dann kann dieser Roman durchaus unterhalten und ein paar seichte Lesestunden füllen, die keinesfalls verloren sind, aber auch nicht lange im Gedächtnis bleiben. Übrigens: Die Reihenfolge muss man nicht unbedingt einhalten. Die wichtigsten Fakten über Reacher und sein Leben werden in jedem Buch kurz angerissen, sodass man immer weiß, woran man mit dem Ex-Militärpolizisten ist.
Cover © blanvalet
- Autor: Lee Child
- Titel: Im Visier (Ein Jack-Reacher-Roman)
- Teil/Band der Reihe: 19 von 23 (20 – 23 bislang nicht auf Deutsch erschienen)
- Originaltitel: Personal
- Übersetzer: Wulf Bergner
- Verlag: blanvalet
- Erschienen: 06/2018
- Einband: Gebunden
- Seiten: 416
- ISBN: 978-3-7645-0636-0
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Wertung: 8/15 Ex-Militärpolizisten