Vor nunmehr 45 Jahren feierte Martin Scorsese mit „Hexenkessel“ seinen Durchbruch. Weniger bekannt sind seine beiden zuvor veröffentlichten Filme: Neben diversen Kurzfilmen und Dokumentationen erschien 1967 das Debüt „Who’s That Knocking at My Door“, 1972 (im Jahr vor „Hexenkessel“) das Zweitwerk „Boxcar Bertha“. Koch Films hat sich dem letztgenannten, frühen Scorsese angenommen und macht ihn in einer aufpolierten Version dem deutschen Markt in der Breite zugänglich. Zwar wird mit Bonusmaterial gegeizt, der Film geht aber als sehenswert durch und bietet filmhistorisch Interessierten die Möglichkeit, eine Lücke zu stopfen und selbst die ersten Elemente der Scorsese’schen Handschrift zu erkennen.
Schon immer interessierte sich Scorsese für starke Figuren aus dem realen Leben, so auch bereits in seinem Zweitwerk. Das Leben der Bertha Thompson wurde von Ben Reitman aufgeschrieben und im Anschluss an den Erfolg des Roger Corman-Films „Bloody Mama“ als spannend genug befunden, um die Reihe an „Verbrecherinnen-Streifen“ fortzuführen. Die damals 16-Jährige reist in Folge des Tods ihres Vaters als blinde Passagierin in Güterzugwaggons – eben in Boxcars – durch ein von der Wirtschaftsdepression der 1930er-Jahre angegriffenes Amerika. Im Laufe der Zeit trifft sie auf gleich drei Männer, die sie um den Finger wickelt und deren Wege sich in verschiedenen Konstellationen immer wieder kreuzen.
Am Ende werden sie alle als VerbrecherInnen in die Geschichte eingehen, doch der Film macht deutlich, wie sie trotz unbestreitbarer Dispositionen in die Kriminalität gedrängt wurden. Der Gewerkschafter Big Bell Shelly (David Carradine), der in seinem Aufbegehren gegen die mächtigen Eisenbahner als Kommunist abgestempelt und die Freiheitsliebende Bertha (Barbara Hershey), die als Hure verunglimpft wird, der Schwarze Von Morton (Bernie Case) und der Glücksspieler Rake Brown (Barry Primus) werden als Bande bald bundesweit bekannt und als solche kriminalisiert, obwohl sie im Großen und Ganzen nur Außenseiter sind. Letztendlich fügen sie sich den ihnen auferlegten Rollen und erfüllen die an sie gerichteten Erwartungen.
Es ist eine scharfe Gesellschaftskritik, auf die sich Scorsese mit seiner Verfilmung fokussiert. Das (Rail-)Road-Movie in „Bonnie & Clyde“-Manier führt die Bande durch einen Teil der Südstaaten (unbedingt im Original schauen; die beiden, sehr unterschiedlichen deutschen Synchronisationen können nun mal nicht den Südstaaten-Akzent nachahmen), in denen es abermals rumort. Proletariat, Schwarze, Frauen, alle Minderheiten begehren auf und rebellieren gegen die eingefahrenen ungleichen Verhältnisse. Im Land der Freiheit und der unbegrenzten Möglichkeiten fordern die Randständigen ihre Rechte und die Einlösung des Versprechens auf den amerikanischen Traum ein. Es ist eine Reise durch die verschiedenen Gesellschaftsschichten, die segregiert voneinander sich in der Begegnung misstrauen. Einzig die Außenseiter finden auf freundschaftlicher Basis zueinander und setzen so demokratische wertvolle Kräfte frei.
Das Geschehen ist glücklicherweise nicht so vorhersehbar wie vermutet, denn immer wieder trennen sich die Wege auf dramatische Weise. Es entwickelt sich ein wendungsreiches Katz-und-Maus-Spiel, bei dem jederzeit mit dem Auftauchen von gewalttätigen Polizisten oder Schergen der Eisenbahner gerechnet werden muss. Im Sinne des New Hollywood-Kinos spart Scorsese zudem nicht mit Schockmomenten: Nackt- und Sexszene werden Anfang der 1970er so offenherzig gezeigt, dass auch darüber eine Herausforderung der damaligen Verhältnisse zum Ausdruck gebracht werden konnte. Zudem ist „Boxcar Bertha“ erstaunlich blutrünstig und kommt wohl nur aufgrund des offensichtlichen Einsatzes von Kunstblut mit einer FSK-16 Freigabe vom Hof.
Der Cast lässt sich sehen: Barbara Hershey als Bertha verkörpert die klassische Landschönheit, die sofort alle männlichen Blicke auf sich zieht. John und Sohn David Carradine bringen etwas Hollywood-Flair in die Produktion, an der Tarantino auch darüber Gefallen gefunden haben dürfte. „Boxcar Bertha“ changiert zwischen B-Movie-Charme und Trash, der aber wiederum weniger spannend anzuschauen ist, da er nicht immer gewollt wirkt. Es gibt offensichtliche Defizite im Aufbau, Streckung und Stauchung des Plots sind nicht ausgereift. Scorsese scheint unentschlossen, was die Gewichtung der einzelnen Erzählstränge anbelangt und so wird erst Richtung Finale deutlich, dass Bertha der Dreh- und Angelpunkt des Films und eine starke Frauenfigur ist.
Einige für ihn unverkennbare Elemente sind aber schon in diesem Frühwerk des legendären Regisseurs zu erkennen. Der prominente Einsatz von extrovertierter Musik wird hier durch einen Country-/Bluegrass-Soundtrack, der das Südstaaten-Land-Flair maßgerecht unterstützt. Wichtige Erkennungsmerkmale des New Hollywood-Kinos sind implementiert und machen „Boxcar Bertha“ zu einer uramerikanischen Geschichte. Und natürlich darf auch Scorseses Cameo-Auftritt nicht fehlen, der sich dieses Mal als geschniegelter Freier von Bertha in seinen Film schmuggelt.
Scorsese romantisiert die Taten seiner Figuren etwas zu offensichtlich, bringt jedoch über den deutschen Untertitel „Die Faust der Rebellen“ hinaus genügend bittere Momente ein, um den Charakteren genügend Komplexität zu verleihen. Die Bande begeht Verbrechen, schreckt auch vor exzessiver Gewalt nicht zurück und findet ein tragisches wie blutiges Ende. Die Schuldfrage reicht aber glückerweise tiefer in die gesellschaftlichen Strukturen und beschäftigt sich mit der Möglichkeit auf Emanzipation der gezeigten Minderheiten von ihren Lebensumständen. Eine Frage, die auch viereinhalb Jahrzehnte später leider noch immer von aktueller Brisanz ist.
Hierin findet der Film in den „Landeiern“ und „Yankees“ erstaunliche Fähigkeiten bei der Hilfe zu Selbsthilfe, was von einer ganz eigenen, pragmatischen Intelligenz zeugt. Scorsese hält ein Plädoyer für die Kraft „von unten“, die mitunter zivilisierender wirken als die monopolisierende Staatsgewalt. Außerdem ist die Rebellion clever ausgeführt: Immer wieder machen sich die Vier die Waffen und Infrastruktur ihrer Gegner zu eigen und richten sie gegen sie. Das prominenteste Beispiel ist das blinde Reisen mit der Eisenbahn, die für den Film mehr ist, als nur ein Fortbewegungsmittel. Sie ist ein Symbol für das aufstrebende Amerika – im Guten wie im Schlechten.
Andererseits bleibt die Spaltung bestehen, indem die reichen Eisenbahner überfallen und ihre Statussymbole für den eigenen Zweck eingeheimst werden. Diskurse über Kommunismus (bzw. Sozialdemokratie), Rassismus und Frauenfeindlichkeit, also bei der Frage nach Gleichberechtigung werden noch heute von Schlagworten wie „Polizeigewalt“ und „law & order“ dominiert. Eine feine Beobachtung lässt Scorsese aber glücklicherweise nicht aus: Die argwöhnischen Blicke der Schwarzen, als Bertha „ihre“ Bar betritt, sind auch heute nicht gänzlich überwunden.
In der Ausführung und in Sachen Finesse ist die Regieleistung bei „Boxcar Bertha“ sicher ausbaufähig, aber für Scorsese hat ganz offensichtlich schnell gelernt. Leider umfasst das Bonusmaterial neben dem Trailer und einer Bildergalerie lediglich ein Interview mit Scorsese und ausgewählten Weggefährten, das schon nach weniger als drei Minuten endet. Hier wäre eine längere Einordnung wünschenswert gewesen, denn selbst das kurze Intermezzo hält einige interessante Informationen parat. Für Scorsese war „Boxcar Bertha“ sicherlich eine wichtige Lektion, die seine einzigartige Karriere erst ins Rollen brachte – und noch heute von erschreckender Aktualität ist.
Fazit: 1972 veröffentlichte Scorsese seinen zweiten Spielfilm „Boxcar Bertha“, der im Jahr vor „Hexenkessel“ bereits typische Elemente des legendären Filmemachers in sich trägt. Die handwerklichen Schwächen sind offensichtlich und lassen verstehen, warum der Film über die Jahre durch das Raster gefallen ist. Heute dürfte angesichts der Trash-Fanscharen eine Veröffentlichung sinnvoller erscheinen, dabei wird diese Titulierung dem Film nicht gerecht. „Boxcar Bertha“ legt es auf Kult an, wie ihn Tarantino später etablieren konnte, ist aber durchaus ernst gemeint und bietet Einsichten in ein kaputtes Amerika, wie es heute wiederzuerkennen ist. Auch wenn umfangreicheres Bonusmaterial weitere Kaufargumente hätte liefern können, geht der Film unter den genannten Rahmenbedingungen als sehenswert durch.
Cover und Szenebilder © Koch Films
- Titel: Boxcar Bertha – Die Faust der Rebellen
- Originaltitel: Boxcar Bertha
- Produktionsland und -jahr: USA, 1972
- Genre:
Crime
Drama
- Erschienen: 14.06.2018
- Label: Koch Films
- Spielzeit:
89 Minuten auf 1 DVD
89 Minuten auf 1 Blu-Ray - Darsteller:
Barbara Hershey
David Carradine
Barry Primus
Bernie Casey
John Carradine - Regie: Martin Scorsese
- Drehbuch:
Joyce H. Corrington
John William Corrington
Ben L. Reitman (Buch) - Kamera: John Stephens
- Schnitt: Buzz Feitshans
- Musik:
Gib Guilbeau
Thad Maxwell
- Extras:
Trailer, Interview mit Martin Scorsese, Bildergalerie - Technische Details (DVD)
Video: 1,85:1
Sprachen/Ton: D (zwei Versionen), GB
Untertitel: GB
- Technische Details (Blu-Ray)
Video: Bildverhältnis, z.B. 16:9, 1,85:1
Sprachen/Ton: D (zwei Versionen), GB
Untertitel: GB
- FSK: 16
- Sonstige Informationen:
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