Wenn nach dem Aufwachen, beim ersten unbebrillten Blick auf das Handy, eine Eilmeldung zur sofortigen Wahrnehmung bereitsteht, dann bedeutet das seit einigen Jahren schon nichts Gutes mehr. So auch an diesem Morgen des 23. Mai 2018. „Eil – Philip Roth im Alter von 85 Jahren verstorben“.
Natürlich wusste der Schreiber dieser Zeilen, dass Philip Roth schon einiges Jahren hinter sich hat, das Schreiben schon seit 2012 offiziell aufgegeben hat – übrigens in einer beeindrucken Ehrlichkeit und bewundernswerten Konsequenz. Doch immer schwang die Hoffnung nach einem weiteren, womöglich großen, Roman, der plötzlich das Genie Roth auf die lesende Menschheit loslässt, mit.
Derer – große Romane – hat Roth einige geschrieben. 30 Stück sind es nach offizieller Zählung. Es ist unerheblich, all die Literaturpreise aufzuzählen, die Literaturskandale zu erwähnen, die sein Werk im Laufe der vergangenen 50 Jahre erhalten und ausgelöst haben. Es soll hier nur um eine persönliche Wahrnehmung eines so vielfältigen, unbequemen, durchaus fordernden aber zu großen Teilen aber auch großen, unwiderstehlichen Literaturgenuss gehen.
Entdeckt habe ich Roth – wie könnte es klischeehafter kaum sein? – in der Bibliothek der Katholischen Theologie in Bamberg. 2. Semester, Germanistik und Theologie auf Magister. Um mich herum durchaus zahlreiche Kommilitonen und Freunde, die sich als Priester berufen fühlten. Viele Träume, viel Idealismus und dazwischen dann doch die ewig präsente Versuchung des Eros in Gestalt und Quantität fast paritätisch aufgestellter Frauen. Aus der Berufung zum Priesteramt wurden dann doch einige Familienväter, manche sogar beides. Klammheimlich. Immer noch. Dem interpretationsfreudigen Kirchenrecht sei Dank.
Dazwischen, damals und heute, meine Wenigkeit und das eruptive Leseerlebnis von „Gegenleben“, eine virtuose und faszinierende Maskerade, eine literarische Offenbarung. Die großen Themen des Philip Roth dekliniert der Autor hier meisterhaft – auch und gerade in der heutigen Nachbetrachtung seines gesamten Werkes – durch. Eros, Thanatos und das Spiel mit Identitäten, Rollen, Gesellschaft und Religion. All diese Motive spielen in fast alles Werken von Roth eine dominante Rolle. Der Aspekt der Mortalität, nicht nur als Mythos, sondern in Form schmerzhaften körperlichen und intellektuellen Verfalls kam ebenfalls schon früh – „Mein Leben als Sohn“ – zum Einsatz, wurde dann aber in seinem Spätwerk zu einer bestimmenden Konstante. Nicht larmoyant, nicht altersgeil, mehr als nur Angstblüte, sondern bis zu seinem literarischen Schlussakkord hoch artifiziell, sarkastisch und dabei bewegend, anrührend und nachhaltig – und immer über sich selbst hinausweisend. Wissend und bewusst scheiternd, aber immer wieder auf der Suche nach der individuellen Wahrheit für ein gutes Leben.
Nach „Gegenleben“ war es dann „Der menschliche Makel“, der mit seinen Wendungen, seinen bissigen, sarkastischen und hochintelligenten Dialogen und Beziehungsgeflechten, der mich für diesen Autor derart einnahm, dass ich alles verdiente Geld in ebenjener Uni-Bibliothek abwarf und in den Kauf all seiner Romane und Erzählungen investierte. Ja, die Clinton-Affäre spielt eine Rolle, der Alltagssexismus, -rassismus. Der Mensch als scheiterndes Wesen, das so viel mehr sein will als er ist, das realer sein will als es scheint, das mehr scheinen will als sein. Irgendwo dazwischen verortet Roth seine Protagonisten und lässt sie in diesem Vieleck mal diese mal jene Rolle annehmen, in der Hoffnung, dass aus Rollen Identitäten werden. Und am Ende tanzen Coleman Silk und Nathan Zuckermann das amor fati Nietzsches. Sensationell.
Die Wucht, die seinem Erstling Goodbye Columbus“ (1958) und seinem ersten Welterfolg„ Portnoys Beschwerden“ damals auf die amerikanische Literaturszene innewohnte, war für den 20-jährigen Studenten immer noch – wieder? – spürbar. Ebenso das aus heutiger Sicht zuweilen überkonstruierte Spiel mit seinem Alter Ego Nathan Zuckermann, nicht alles war und ist für mich nachvollziehbar. „Das Amerikanische Idyll“ ist wahrscheinlich nur jenen zugänglich, die eine sehr enge Beziehung in die USA haben, die Vergötterung der „Brust“ ist aus heutiger Sicht ein wenig zu altherrenlastig – oder midlife-crisis-bedingt?
Dennoch: „Sabbaths Theater“, „Der menschliche Makel“, „Gegenleben“, „Mein Leben als Sohn“ und die kraftvoll-melancholische, schon auf das Ende hinausdeutende Pentalogie „Jedermann“, „Empörung“, „Die Demütigung“ ,„Exit Ghost“ und „Nemesis“ bleiben – ganz subjektiv – große Romane. Vor allem letztere: Sie zeigen noch einmal die poetische Kraft des Philip Roth, sie zeigen den alten Mann, der nicht mehr wirklich kann, dessen Strahlkraft nachlässt und der abgelöst wird von der jüngeren Generation. Wirklichen Eros gibt es nicht mehr, es bleiben die Träume. Und dialektisch verkehrt wird aus der Möglichkeit des Todes seine unausweichliche Gewissheit. Aus der Wut, dem Furor und dem Zwang, das eigene Leben als Vorbild für andere anzusehen, ist eine Gelassenheit geworden, die der Trauer Raum lässt, die aber nicht selbstmitleidig-resigniert agiert, sondern melancholisch, aber mit Blick nach vorne den verbleibenden Weggabelungen entgegensieht. Konsequent vermeiden die Protagonisten den Blick auf das Danach. Das spielt in Roths Universum keine Rolle.
Es ist das Leben, das sich zwischen den Zeilen bahn bricht. Kein einfaches Leben, es sind meist Protagonisten mit akademischem oder künstlerischem Background. Die Dialoge sind klug, reflektierend, gerne gespiegelt in bewussten Verletzungen bestimmter Grenzen – nur um neue zu finden oder Rechtfertigungen für jene zu suchen.
Roth und seine Protagonisten ringen mit den Worten, suchen nach den richtigen Ausdrucksmöglichkeiten. Nicht, weil sie sonst sprachlos wären, sondern weil sie immer wieder, immer wieder neu das passendere, treffendere, genauere Wort suchen. Und mit dem Wort entstehen Identitäten, Lebensentwürfe – oder es brauen sich heftigste existenzielle Unwetter zusammen.
Bedingungen des Schreibens und des Findens der Worte im Rahmen politischer oder religiöser Ideologien sind ganz offensichtlich und nicht nur auf der Metaebene das Thema seiner Gespräche mit zahlreichen europäischen und amerikanischen Intellektuellen, versammelt in einem kleinen aber wirklich sehr feinen und so überaus subtil klugen Gesprächsband „Shop Talk“. Überhaupt: Ja, Philip Roth ist ein durch und durch amerikanischer Schriftsteller. Dennoch finden sich zahlreiche Stellen, Motive, die ihn auch als Rezipient ost-europäischer Literatur- und Denktraditionen ausweisen.
„Tatsachen“ oder die „Zuckermann“-Romane sind auch Beispiele dafür, warum in uns makelhaften Wesen der Drang da ist, uns unsere eigenen Lebensgeschichten zu erzählen, aber auch gleichermaßen dafür, warum und vor allem auch wie das scheitern kann.
War Roth ein dezidiert jüdischer Autor? Schwer zu sagen – und das ist für jemanden, der jede Schubladen für sich in seinem literarischen Werk vermiedenen hat – auch sicher so gewollt. Die Religion spielt bei Roth eine Rolle, aber immer nur dann, wenn es um Identitätsbildung geht. Denn die Religion und die Rolle, die sie ihrem jeweiligen Protagonisten zuschreibt, bilden das Gerüst, das erst einmal eingerissen werden muss. Deutlich wird auch dies in „Gegenleben“. Jerusalem spielt hier eine wichtige Rolle. Es geht auch um den ewigen Spagat zwischen Diaspora und Zionismus. Es ist eine Frage der Identität und der Gewichtung der Rolle, die ein jeder ihr für sich zuschreibt. Roth bleibt offen. Und entschied sich damals für die Fortsetzung der Marter, die nicht nur die Identitätsbildung und -fortschreibung sowie das Schreiben bedeutet.
Dieser Marter hat er 2012 literarisch ein Ende gesetzt, indem er ganz offiziell seine Karriere als Schriftsteller beendete – und sich daran hielt, nach allem, was man weiß. Einzig vereinzelte Interview und zuletzt im März 2018 ein – wie zu erwarten – kluger, hellsichtiger und pointierter Essay im „New Yorker“ zu Amerikas Identität. Bäm! Dass diese fast genau 60 Jahre nach der Veröffentlichung von „Goodbye, Columbus“ im gleichen Magazin erschien, mag man für Zufall halten.
Philip Roth starb am 22. Mai mit 85 Jahren in New York an Herzversagen.