«So gut wie alles stimmte mit ihnen nicht. Stimmte nicht und würde wahrscheinlich niemals stimmen. Die Mutter bekam Arbeitslosengeld, aber ihr Vollzeitjob war Selbstmitleid.»
Pete Snow ist Sozialarbeiter und zieht in den 1980er Jahren durch den Nordwesten Montanas, um Familien am Rande der Gesellschaft zu helfen. Er versucht alles, um Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen, sie von ihren drogensüchtigen Eltern fortzubringen, sie aus der Armut herauszuholen. Während er andere Familien rettet, gelingt ihm das bei seiner eigenen nicht – seine Frau ist auf und davon, seine Tochter spurlos verschwunden. Eines Tages trifft er auf einen verwildert aussehenden Jungen, der ihn zu dessen Vater führt: Jeremiah Pearl, ein im Wald lebender paranoider Anarchist, der auf das Ende der Welt wartet. Nach und nach erlangt Pete sein Vertrauen und die beiden ungleichen Männer entwickeln eine eigenwillige Freundschaft. Bis das FBI auf den Plan tritt, das schon lange versucht, den gesetzlosen Jeremiah ins Netz zu kriegen.
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„Montana“ ist eines dieser Bücher, die man erst einmal sacken lassen muss. Eine deprimierende Geschichte, die ein sehr trübes Bild vom Leben in den USA zeichnet und die Schattenseiten zeigt. Eine Geschichte, die bewegt, berührt, betroffen macht, zum Nachdenken anregt. Eine Geschichte über Toleranz und Hilfsbereitschaft. Eine Geschichte voller Facetten und Komplexität.
Pete ist dabei die Hauptfigur – ihm schauen wir den Großteil der knapp 600 Seiten über die Schulter. In einem Handlungsstrang gehen wir mit ihm auf die Suche nach seiner Tochter Rachel, die von zu Hause weggelaufen ist. „Zu Hause“ ist allerdings nicht bei Pete, sondern bei ihrer feierwütigen Mutter in Texas. Anderen Kindern zu helfen, während er nicht weiß, wo seine eigene Tochter steckt, treibt Pete an seine Grenzen. Er fährt kreuz und quer durchs Land, geht jedem kleinen Hinweis nach und verzweifelt fast daran.
Daneben stehen die Ereignisse rund um die Familie Pearl im Vordergrund. Wir erfahren, wie Pete den Jungen, Ben, kennenlernt und sich über ihn langsam auch dessen Vater annähert. Jeremiah ist davon überzeugt, dass die Welt untergeht, er ist in höchstem Maße paranoid und misstrauisch. Pete versucht behutsam hinter die Geheimnisse der tiefgläubigen Pearls zu kommen. Auch das treibt ihn oft an seine Grenzen, den das Leben und die Ansichten der Familie sind kaum zu begreifen und werfen immer mehr Fragen auf.
In einem dritten Strang lernen wir einen von Petes Schützlingen genauer kennen. Cecil ist ein schwieriger Junge, der aus vollkommen zerrütteten Verhältnissen stammt. Er macht nur Probleme, will sich nicht unterordnen und trägt eine unglaubliche Wut in sich. Je mehr wir über ihn erfahren, desto mehr wandelt sich die anfängliche Antipathie in Verständnis.
Zu guter Letzt sind zum Ende einiger Kapitel Interviews eingestreut. Wir erfahren weder wer sie führt, noch mit wem – über beides lässt sich nur spekulieren. Es geht dabei um Petes Tochter. Warum ist sie abgehauen? Was hat sie erlebt? Und wohin führt sie ihr Weg? Die beiden Gesprächspartner verfügen über tiefe Kenntnisse und sind dem Leser weit voraus. Durch sie ergibt sich für uns ein konkreteres Bild von Rachel, die sich lieber Rose nennt. Dass wir offenbar sogar mehr wissen als Pete, der sie so verzweifelt zu finden versucht, hinterlässt ein mulmiges Gefühl. Fast fühlt man sich schuldig gegenüber Pete, weil man die Informationen nicht mit ihm teilen kann.
Als Protagonist ist Pete uns am nächsten. Zunächst lernen wir ihn als aufopferungsvollen, etwas alternativen Sozialarbeiter mit großem Herzen kennen. Je weiter die Geschichte voranschreitet, desto deutlicher wird aber, welche eigenen Probleme Pete mit sich herumschleppt und wie selbstzerstörerisch er häufig damit umgeht. Er ist mit sich selbst nicht im Reinen, trinkt zu viel und bekommt sein Privatleben nicht auf die Reihe. Während er anderen hilft, würde man selbst gerne Pete helfen. Man wünscht ihm, dass er die Kurve kriegt und irgendwann endlich glücklich sein kann.
Auch die weiteren Charaktere sind überzeugend und facettenreich gezeichnet, wenn auch nicht so tief wie Pete. Insbesondere Jeremiah ist eine außergewöhnliche und faszinierende Figur. Es ist nahezu unmöglich, Verständnis für diesen vollkommen paranoiden Mann aufzubringen, gleichzeitig ist er unheimlich interessant und die Hintergründe seiner Handlungen und abstrusen Weltanschauung sind überaus spannend.
Erzählt ist all das in einer starken, bildhaften Sprache, die eine düstere, triste und schwermütige Atmosphäre schafft. Unterbrochen wird die Dunkelheit von den eindrucksvollen Landschaftsbeschreibungen, die Montanas wunderschöne Natur für den Leser erlebbar machen. Hendersons Stil ist authentisch, flüssig und eindrucksvoll, seine Beobachtungen sind intelligent und tiefgründig. Das Ende lässt der Autor im Prinzip offen – es ist im Endeffekt ein ewiger Kreislauf, aus dem niemand ausbrechen kann.
Fazit: ” Henderson zeigt mit seinem Roman ein ausweg- und hoffnungsloses Amerika, in dem Menschen am Rande der Gesellschaft ihr Dasein fristen. Der Autor führt uns auf sehr nachdrückliche Weise vor Augen, wie diese Menschen Opfer der Umstände werden und wie schwierig es für viele ist, sich ihrem Schicksal nicht zu ergeben, sondern auszubrechen und den richtigen Weg zu finden. Gleichzeitig gibt es einen Hoffnungsschimmer: Menschen wie Pete, die trotz ihrer eigenen Lasten für andere da sind, für sie kämpfen und die Hoffnung auf ein besseres Leben nie ganz aufgeben.
Cover © btb
- Autor: Joshua Smith Henderson
- Titel: Montana
- Originaltitel: Fourth of July Creek
- Übersetzer: Walter Ahlers, Sabine Roth
- Verlag: btb
- Erschienen: 02/2018 (Gebundene Ausgabe 04/2016)
- Einband: Taschenbuch
- Seiten: 608
- ISBN: 978-3-442-71594-7
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Wertung: 13/15 Verschwörungstheorien