«Genüsslich streckte er die Arme aus, gähnte, kratzte sich den struppigen Nacken und sah das Einhorn in seinem Weingarten.»
Claudio lebt zurückgezogen auf seinem Hof in Kalabrien. Der grummelige Bauer beschränkt seine menschlichen Kontakte auf ein Minimum und ist am liebsten allein mit seinen Tieren. Eines Tages traut er seinen Augen kaum als er aus dem Haus tritt – ein Einhorn steht in seinem Weingarten. Für Claudio ist sofort klar, dass er das magische Tier beschützen muss. Zunächst erfahren nur sein einziger Freund, der Postbote, und dessen Schwester von dem Fabelwesen. Doch es dauert nicht lange und Reporter, Tierschützer und sogar die Mafia stehen vor Claudios Tür.
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Im Moment erleben Einhörner eine Art Hype und begegnen uns gefühlt überall – ob wir wollen oder nicht. Aber die Wesen von Peter S. Beagle sind über diesen bisweilen etwas nervigen Trend zweifellos erhaben. Denn bereits 1968 erzählte der Amerikaner seine wunderschöne Geschichte vom letzten Einhorn – ein Klassiker der Fantasy-Literatur. Das Buch wurde in den 80ern ebenso düster wie atemberaubend verfilmt und zählt bis heute zu den eindrucksvollsten Zeichentrickfilmen. Jetzt lässt Beagle sein mystisches Tier erneut aufleben und nimmt uns mit auf eine Reise nach Süditalien.
Dort lebt der Bauer Claudio eher wie im 19. als im 21. Jahrhundert. Andere Menschen scheut er, nur seinen Tieren fühlt er sich wirklich nah. Als das Einhorn erscheint, wird sein Leben auf den Kopf gestellt. Er fühlt sich dem Wesen auf wundersame Weise verbunden und spürt sofort den unbändigen Wunsch, es um jeden Preis zu schützen. Als die Schwester seines Postboten, die rebellische Giovanna, das Einhorn entdeckt, ist Claudio zunächst fast ein wenig eifersüchtig, weil sie sofort eine Verbindung zu dem Tier zu haben scheint. Aber bald keimen Gefühle zwischen Giovanna und dem Bauern auf, mit denen die beiden niemals gerechnet hätten – trotz mehr als zwanzig Jahren Altersunterschied. Insofern ist “In Kalabrien” auch eine Liebesgeschichte. Keine kitschige, sondern eine, die sich auf bezaubernde Weise entwickelt, eine, die in einen magischen Rahmen gespannt ist und dennoch ganz selbstverständlich entsteht.
Das Einhorn ist zwar zwischen den Zeilen immer präsent, taucht aber tatsächlich nur selten und eher im Hintergrund auf. Im Vordergrund steht hier nicht das mystische Wesen an sich, sondern die Art und Weise wie es Claudios Leben verändert. So schimmert auf jeder Seite ein gewisser Zauber hindurch, während die eigentliche Handlung ein ebenso realistisches wie ernüchterndes Bild unserer Gesellschaft zeichnet.
Sobald sich das Gerücht verbreitet hat, dass auf Claudios Hof ein Einhorn lebt, drehen die Menschen durch. Reporter belagern das Grundstück, vermeintliche Tierschützer gehen den verschrobenen Bauern an, Jäger wollen Horn und Kopf des Tieres und sogar die kalabrische Mafia lässt nicht lange auf sich warten. Sie bedroht Claudio, schlägt ihn zusammen und versucht sogar ihn zu töten.
Peter S. Beagle zeigt, wie unterschiedlich Menschen mit einem Wunder umgehen. Nur wenige wissen es zu schätzen, verstehen den unschätzbaren Wert, der ihm innewohnt, und begreifen, dass es etwas Heiliges ist. Der Großteil denkt nur an Profit und daran, dieses Wunder zu besitzen.
Claudio weiß, dass ihm das Einhorn nicht gehört, nur weil es sich seinen Hof ausgesucht hat. Er erkennt die Macht, die von diesem Wesen ausgeht. Seine Art, mit dem Wunder umzugehen, macht ihn trotz seiner Grummeligkeit sympathisch. Seine Liebe zu Tieren und seine Gefühle für Giovanna, seine Unbeholfenheit mit der Situation – all das lässt ihn uns ins Herz schließen. Ebenso Giovanna, die herrlich frischen Wind in Claudios Leben bringt, stark und eigensinnig ist.
Erzählt wird die Geschichte in einer schönen, flüssigen Sprache, die die Magie unterschwellig spürbar macht. Die Handlung spielt sich komplett auf Claudios Hof ab, der bildhaft beschrieben ist – man sieht ihn beim Lesen vor sich, kann sich die dort lebenden Tiere wunderbar vorstellen. Das Setting in Süditalien passt perfekt zur Story und gibt ihr eine besondere Atmosphäre. Das dörfliche Italien ist auch ohne Fabelwesen ein zauberhafter Ort, in den sich das Einhorn auf ganz natürliche Weise einfügt.
Fazit: “In Kalabrien” ist – heruntergebrochen – eine ruhige, magische Liebesgeschichte, die Peter S. Beagles Einhorn neues Leben einhaucht. So düster “Das letzte Einhorn” war, so sehr geht es in diesem Buch um das Licht, das das erhabene Tier ins Leben des Bauern bringt. Claudios Geschichte zu lesen ist ein wundervoller Ausflug ins südliche Italien, auf Claudios Bauernhof und in sein Leben, das plötzlich auf den Kopf gestellt wird. Für Fans von “Das letzte Einhorn” ist dieses Werk Pflicht, aber auch alle anderen, die ein klein wenig Magie in ihren Alltag lassen möchten, werden ihre Freude an den 164 Seiten haben.
Cover © Klett Cotta
- Autor: Peter S. Beagle
- Titel: In Kalabrien
- Originaltitel: In Calabria
- Übersetzer: Oliver Plaschka
- Verlag: Klett-Cotta – Hobbit Presse
- Erschienen: 02/2018
- Einband: Gebunden
- Seiten: 164
- ISBN: 978-3-608-96217-8
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Wertung: 12/15 magische Fabelwesen
Bereits im “letzten Einhorn” steckt ja meiner Meinung nach die Saat für diesen Roman: Schon damals philosophierte Beagle darüber, dass der Platz, wo ein Einhorn geboren wurde, eine ganz besondere Magie besitzt. Ich hoffe, hier ist ein kleiner Querverweis erlaubt & zählt nicht als unerwünschte Werbung (das betreffende Magazin ist immerhin kostenlos) – die deutsche Fassung eines Telefoninterviews, das ich 2017 u.a. anlässlich der Veröffentlichung genau dieses Buches führen durfte, ist in den April- und Maiausgaben des Corona Magazine nachzulesen: http://www.ifub-verlag.de/index.php/corona-magazine/aktuelle-ausgabe/201-corona-magazine-april-2018
Viele Grüße
Jörg