Jack London in Italien
Paolo Cognetti benutzt sein Mobiltelefon selten und widerwillig. Er hat eine Ausnahme gemacht, um im Vorfeld der Eventi Letterari Monte Verità dieses Interview zu geben. Cognetti ist Dokumentarfilmer, Schriftsteller und Aktivist. Sein Roman „Acht Berge“ erzählt die Geschichte der lebenslangen Freundschaft zwischen Pietro, der die Sommerferien in den Alpen verbringt und Bruno, dem Sohn eines Bergbauern. Wir sprachen über die Momente der Freiheit, die das Buch inspirierten, über die vollständige Abwesenheit einer italienischen Umweltpolitik, über Freundschaft als Zuflucht und die Utopie eines unmittelbaren Lebens.
Wenn ich Leute frage, was sie nicht so gerne lesen, sagen sie meistens: Landschaftsbeschreibungen. Ihr Buch „Acht Berge“ ist voll von Landschaftsbeschreibungen und ein Bestseller. Was ist Ihr Geheimnis?
Ich zeige die Landschaft nicht wie ein Bild in einem Rahmen, sondern wie etwas Lebendiges, eine eigene Figur. Außerdem muss man die Welt, die man beschreibt, sehr genau kennen. Die Bäume, die wilden Tiere. Leser lernen gern etwas Neues, sogar aus Romanen. Man braucht also Poesie und Wissenschaft.
Der Roman spielt in den Alpen, einer Gesteinsformation, die wir aus unzähligen Heimatromanen, Fünfzigerjahre-Filmen und von Kitschpostkarten zu kennen glauben. Hatten Sie das beim Schreiben im Hinterkopf?
Ja, natürlich. Es gibt dieses Bild der Berge als Paradies. Das hasse ich. Es ist verlogen. Das Schreiben über die Natur hat keine große Tradition in Italien, unsere Literatur findet in urbanen Landschaften statt. Ich habe an die große amerikanische Literatur gedacht, an Jack London, Hemingway, Thoreau. Für sie ist die Natur ein Ort, an dem ein Mann neu anfangen kann, wenn er sich geschlagen geben musste, wenn er schwach ist, wenn die Stadt ihn gedemütigt hat. Er kann weggehen und in der Wildnis von vorne anfangen.
Warum hat Italien keine Tradition des Schreibens über die Wildnis?
Wir haben Berge und wir haben das Meer, aber wir haben eben auch Städte, seit Tausenden von Jahren: Kultur, Zivilisation. Die Natur vergessen wir. Das ist auch in der Politik so. Sechzig Prozent dieses Landes besteht aus Gebirge, aber Italien sieht sich als Land der Städte und Strände. Es ist unglaublich.
Wie steht es um den Umweltschutz?
Umweltschutz ist kein Thema. Vergangenen Sonntag hatten wir Wahlen, und nicht eine der Parteien, nicht ein einziger Politiker sprach über Umweltschutz. Es interessiert niemanden. Wir haben auch keine grüne Partei im Parlament. Das ist sehr traurig. Ich setze auf die Europäische Union und hoffe, dass sie unsere Wälder, Berge und Flüsse rettet.
Der Vater Ihres Ich-Erzählers Pietro fährt nie im Winter in die Berge, weil die Ski-Touristen ihn wütend machen, wenn sie die Berge zerstören. Geht es Ihnen genau so?
Ich finde, er hat Recht. Ich lebe jetzt in einem kleinen Haus in 2000 Metern Höhe. Ich hatte nach einem Haus gesucht, das weit, weit weg von allem liegt. Im Herbst fand ich heraus, dass es mitten in einer Skipiste liegt. Das nervt so sehr. im Sommer ist es der schönste Ort. Im Winter kommen Tausende von Leuten aus Mailand und Turin. Sie kommen am Samstag und bleiben bis Sonntag. Sie fahren Ski, sie essen, sie trinken. Sie konsumieren die Berge. Auf eine gewalttätige Art. Um eine Skipiste zu bauen, verwüstet man die Berge und Wälder mit Bulldozern und Raupenbaggern.
Wie lebt es sich in einem Skigebiet?
Keine Ahnung. An den Wochenenden fahre ich weg.
Sie fliehen in die Stadt.
Ja. Meine liebste Zeit beginnt im April, im Mai, wenn die Bauern und Hirten mit ihren Kühen ankommen und ich die reichen Skifahrer nicht mehr sehen muss. Im Sommer sind die Alpen eine ganz andere Welt, und ich liebe dieses einfache Leben.
Als Kind verbrachten Sie ihre Ferien oft im Aosta-Tal. Welche ist Ihre deutlichste Erinnerung an diese Zeit?
Freiheit. Mailand ist keine gute Stadt für Kinder, es gibt weder Parks noch lebendige Straßen. Als Kind spielte ich also meistens in unserer Wohnung, in meinem Zimmer. Ich fühlte mich wie im Gefängnis. Aber den Juli und den August verbrachte ich mit meinen Eltern im Aosta-Tal. Meine Mutter stammte vom Land, also schätzte sie die Berge als sichere Umgebung ein. Sie machte sich keine Sorgen um mich, wenn ich den ganzen Tag im Wald und am Fluss spielte, sie freute sich für mich. Im September gingen wir dann wieder in die Stadt zurück, aber im Sommer wurde ich für zwei Monate ein wildes Kind. Als ich dann als Erwachsener, mit dreißig, eine Art Krise hatte, erinnerte ich mich an diese Sommer und dachte, dass mein Glück vielleicht in den Bergen geblieben war.
Und haben Sie es dort wiedergefunden?
Ja. Und Einsamkeit. Aber die ist manchmal gut und manchmal schlecht. Ich bin eigentlich kein Einsiedler. Manchmal leide ich unter der Einsamkeit, dann besuche ich meine Freunde in der Stadt. Aber ich habe auch neue Freunde gefunden. Nach einer Phase vollständiger Einsamkeit begann ich mich mit den Gebirglern zu treffen, und zwei von ihnen wurden gute Freunde von mir. Dann zog ich selbst in die Berge. In den letzten zehn Jahren habe ich die Hälfte des Jahres in den Bergen, die andere Hälfte in der Stadt verbracht. Letztes Jahr habe ich mit ein paar Freunden ein Festival ins Leben gerufen, ein Festival für Kunst, Musik und Literatur. Es heißt The Call of the Wild, nach der Kurzgeschichte von Jack London. Es dauert drei Tage, und die Leute können mit dem Zelt kommen und im Wald wohnen. Außerdem habe ich einen Stall in der Nähe meines Hauses gekauft. Ich würde ihn gern zu einem Ort der Kultur ausbauen, für Einheimische, Künstler, Schulkinder und politische Arbeit.
Was haben Sie vor?
Ich möchte Künstler einladen, eine Zeit lang dort zu wohnen und zu arbeiten. Und ich möchte Schulklassen einladen. Jetzt gerade reise ich durch Italien und spreche mit Kindern über die Berge. Und dann würde ich gern noch Workshops anbieten, für die Leute, die zurück ziehen, wie ich. Es gibt ein paar, wir nennen sie nuovi montanari. Sie wissen zum Beispiel nicht, wie man Käse macht und müssen viel über Landwirtschaft lernen.
[Knurren im Hintergrund]
Das ist mein Hund. Er kämpft mit einem anderen Hund.
Gewinnt er?
Nein, er verliert. Ich halte ihn zurück.
(lacht)
Die jungen Leute, die zurück in die Berge gehen, brauchen ein Netzwerk. Vielleicht kann ich eine Art Brücke sein. Ich lebe die Hälfte meines Lebens in der Stadt, die andere Hälfte in den Bergen. Ich kann die Leute miteinander verbinden.
Was erzählen Sie den Kindern über die Berge?
Kinder, die in der Stadt aufwachsen, wissen nichts über die Natur. Sie wissen die Namen der Bäume nicht und haben noch nie ein wildes Tier gesehen. Für sie ist alles neu. Ich würde ihnen gern diese Freiheit vermitteln, die ich selbst als Kind gespürt habe, diese Schönheit. Und dann: Schon Kinder sind zu sehr daran gewöhnt, ständig Geld auszugeben. Alles hat seinen Preis. Aber in den Bergen, im Wald, gibt es nichts, was man kaufen könnte. Mir ist wichtig, dass sie verstehen, dass es etwas jenseits von Konsum gibt. Dass wir in Italien keine Umweltschutzpolitik haben, liegt auch daran, dass wir den Kindern den Reichtum unserer Natur nicht zeigen.
Was suchen wir, wenn wir in die Natur gehen?
Ich lehne viele Dinge ab. Ich weigere mich, immer Geld dabei zu haben, immer zu arbeiten und mein Leben so zu leben wie alle anderen. Wenn wir in die Natur gehen, suchen wir nach einem Leben, das tatsächlich unseres ist.
„Acht Berge“ sei ein Buch über Männerfreundschaften, hieß es in vielen Kritiken. Glauben Sie, dass es eine spezifisch männliche Art der Freundschaft gibt?
Ja. Männer sind einsamer als Frauen. Viele Männer, die ich kenne, haben keine sozialen Beziehungen jenseits ihrer Familie.
Woran liegt das?
Das haben wir von unseren Vätern gelernt. Die verbrachten ihr Leben mit Arbeit, bauten Häuser, vergrößerten ihre Familien, brachten ihre Karriere voran und vergaßen ihre Freundschaften. Auch Pietro lernt das von seinem Vater. Unsere Generation ist ganz anders. Wir haben weniger Geld und weniger Arbeit, auch wegen der Wirtschaftskrise. Das gibt uns die Gelegenheit, die Dinge, die unsere Väter vergessen haben, wieder zu entdecken. Wie Freundschaft. Was unsere Väter noch hatten, waren starke Beziehungen zu ihren Nachbarn und Kollegen, in ihren Fabriken und Büros. Diese Beziehungen sind heute weniger stark, denn unsere Arbeitsplätze sind, wenn wir welche haben, weniger sicher. Freundschaft könnte unsere Zuflucht werden.
Pietro wird ein Reisender, er erkundet die Welt. Bruno bleibt auf dem Hof seines Vaters, verweigert sich der Moderne und dem Tourismus und praktiziert traditionelle Landwirtschaft. Er schafft es, den Hof aufzubauen und eine Familie zu gründen, endet aber verarmt und allein. Also ist alles verloren, Widerstand zwecklos?
Vielleicht ist das so. Ich habe gesehen, was auf meinem Berg passiert ist. Brunos Geschichte ist die eines Volkes, nicht nur die eines einzelnen Mannes. Die Leute, die so lebten wie Bruno sind in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts verschwunden. Sie haben die Berge verlassen, um in Fabriken zu arbeiten. Bruno wollte ein Held sein, der letzte Mohikaner, der letzte Gebirgler. Aber sein Scheitern war unvermeidlich.
Aber einige kommen zurück.
Einige kommen zurück. In den letzten 15 Jahren hatten wir in den Alpen eine kaum spürbare Umkehrung der demographischen Entwicklung. Nach einem Bevölkerungsrückgang um siebzig, achtzig Prozent haben wir jetzt etwa ein Prozent Zuwachs. Ein kleines Phänomen, aber trotzdem. Durch meine Arbeit kenne ich viele von den Neuen. Ich weiß von ihren Träumen und Problemen, und warum sie die Stadt verlassen haben.
Was sind das für Leute?
Es sind Leute, die eine Wahl haben, Sie sind viel gereist, sie haben Europa gesehen und sich bewusst dafür entschieden, als Gebirgler und Hirten zu leben. Dahinter steht ein utopischer Gedanke.
Infos über das Buch:
- Autor: Paolo Cognetti
- Titel: Acht Berge
- Originaltitel: Le otto montagne
- Übersetzerin: Christiane Burkhardt
- Verlag: DVA
- Erschienen: 09/2017
- Einband: Hardcover
- Seiten: 256
- ISBN: 978-3-421-04778-6
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