«Ein Freak für alle Nachbarn. Eine Witzfigur für die Polizei. Ein trauriger Fall für ihren Psychotherapeuten. Eine Eingeschlossene. Keine Heldin. Keine Hobbyschnüfflerin. Ich bin eingeschlossen. Ich bin ausgeschlossen.»
Anna Fox ist eine ehemalige Kinder-Psychologin und leidet an Agoraphobie. Seit zehn Monaten hat sie ihr Haus nicht mehr verlassen. Um sich die Zeit zu vertreiben, chattet sie mit Gleichgesinnten, trinkt zu viel Wein und spioniert ihre Nachbarn aus – durch den Sucher ihrer Kamera schleicht sie sich in die Häuser außerhalb ihrer vier Wände. Als die Russels – Vater, Mutter, Teenie-Sohn – gegenüber einziehen, wird ihr ihre Einsamkeit schmerzlicher bewusst, als je zuvor. Eines Tages hört sie einen Schrei aus dem Haus der Russels und beobachtet wenige Tage später, wie ihre neue Nachbarin erstochen wird. Anna ruft die Polizei und versucht sogar selbst, der Frau zu Hilfe zu kommen. Doch als sie über ihre Türschwelle tritt, verliert sie das Bewusstsein. Nachdem sie wieder erwacht, will ihr niemand glauben – angeblich ist nichts passiert und Jane Russel putzmunter. Nur, dass Anna die Frau, die behauptet Jane Russel zu sein, noch nie gesehen hat.
Die einsame Anna erzählt uns ihre Geschichte aus der Ich-Perspektive. Dementsprechend nehmen wir die Welt ausschließlich aus Annas Blickwinkel wahr, sehen nur, was sie sieht. Bis zu dem vermeintlichen Übergriff dauert es eine ganze Weile. Zunächst lernen wir Annas Tagesablauf minutiös kennen, beobachten gemeinsam mit ihr ihre Nachbarn und sehen die Russels einziehen. Auch lernen wir Sohn und Mutter Russel kennen, die Anna – unabhängig voneinander – besuchen. Dies ist ein kleiner Lichtblick im kargen Leben der ehemaligen Psychologin, für die seit zehn Monaten jeder Tag gleich aussieht. Unzählige Flaschen Wein sind ihre ständigen Begleiter, alte Schwarz-Weiß-Filme und Online-Schach ihre einzigen Leidenschaften, andere Betroffene in einem Agoraphobie-Forum ihre wenigen Freunde, denen sie psychologische Ratschläge gibt. Nur die Gespräche mit ihrem Mann und ihrer Tochter, die von ihr getrennt sind, können sie aufmuntern. Zumindest kurzzeitig, bevor ihr wieder bewusst wird, dass die beiden eben nicht in ihrer Nähe sind. Da wir Annas Perspektive einnehmen, sind wir sehr nah an ihr dran und kennen ihr Innerstes, zugleich sind ihre Handlungen nicht immer nachvollziehbar und man würde manchmal lieber einen Schritt zurücktreten. Je mehr man über sie erfährt, desto mehr Verständnis kann man aber für sie aufbringen. Die anderen Charaktere sehen wir nur mit Annas Augen, dementsprechend bleiben sie recht eindimensional.
Lange Zeit passiert nicht viel in dieser Geschichte, und trotzdem schafft es das Buch, zu fesseln. Denn man möchte mehr über Anna erfahren und ahnt, dass sich etwas zusammenbraut. Unterschwellig wird das Lesen von einem unangenehmen Gefühl begleitet, alles scheint verdächtig zu sein. Der Schreibstil unterstreicht diesen Eindruck und passt gut zu Annas Verfassung. Wie sie selbst ist er sprunghaft, mal detailliert, mal abgehackt. Anfangs lässt der Autor vieles im Dunklen. So fragt man sich, warum Annas Familie auseinandergebrochen ist, was sie in die Agoraphobie getrieben hat und ob sie zurechnungsfähig ist oder nicht. Allerdings bleibt es nicht lange sonderlich dunkel – Ahnungen ploppen immer wieder auf und werden kaum zerstreut. Leider wird die Handlung zunehmend durchschaubarer. Die eine oder andere Überraschung blitzt zwar auf, doch insgesamt kann man sich als Leser schon recht viel zusammenreimen.
Daneben lässt der Plot an einigen Stellen die Logik vermissen, er wirkt nicht richtig durchdacht. Wieso fotografiert Anna die Tat nicht, um einen Beweis zu haben? Schließlich beobachtet sie alles durch ihre Kamera. Sie erklärt diesen Umstand zwar, allerdings wenig überzeugend. Zudem ist es fragwürdig, ob man Anna, von der angenommen wird, dass sie nicht Herrin ihrer Sinne ist und viel zu viel trinkt, während sie gleichzeitig starke Medikamente nimmt, weiterhin alleine in ihrem Haus lassen würde.
Ein schönes Detail ist wiederum, dass die Filmzitate, aus den Filmen, die Anna ununterbrochen laufen hat, zu der jeweiligen Situation passen, in der die Protagonistin sich befindet. Sie sind geschickt eingebaut und geben der Handlung einen netten, kleinen Rahmen.
Fazit: „The Woman in the Window“ ist eine Geschichte, die durchaus fesselnd und mit einem interessanten Plot ausgestattet, zugleich aber häufig vorhersehbar ist. An einigen Stellen hapert es an Logik und Anna als Charakter ist bisweilen recht anstrengend, lässt den Leser aber auch mit ihr mitfühlen. Insgesamt ist der Debüt-Roman von A. J. Finn ein Buch, das sich gut weglesen lässt und über einen gewissen Spannungsbogen verfügt, der allerdings aufgrund der Vorhersehbarkeit immer wieder einbricht. Wer einen eher einfach gestrickten Psychothriller für nebenbei sucht, macht mit diesem Buch nicht viel verkehrt.
Cover © blanvalet
- Autor: A. J. Finn
- Titel: The Woman in the Window
- Originaltitel: The Woman in the Window
- Übersetzer: Christoph Göhler
- Verlag: blanvalet
- Erschienen: 03/2018
- Einband: Broschiert
- Seiten: 544
- ISBN: 978-3-7645-0641-4
- Sonstige Informationen:
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