Wer ist der Herr in der Literaturkritik? Der Autor, der sagt, er verwahre sich gegen eine bestimmte Lesart? Nun, einen solchen Satz hat Christoph Poschenrieder in den ein oder anderen Interviews getätigt – er verwahre sich dagegen, seinen Roman als Roman über die Flüchtlinge zu verstehen. Doch wer das nicht will, der soll halt nicht über Flüchtlinge schreiben. Man könnte dem Autor nun Naivität, vielleicht gar Schlimmeres vorwerfen, doch erstens sind solche Äußerungen null und nichtig, denn zweitens bedeutet in seinem inzwischen doch schon fünften Roman alles alles, nichts nichts und alles nichts.
Was sollte es, wenn es kein Dorf-Roman, kein Flüchtlings-Roman sein soll, denn sonst sein? Eine Nacherzählung der „schwarzen Spinne“? Ein Pfaffen-Roman? Ein CSU/AfD-Fanal? The Wall – nur ohne Mittelfinger? Eine Coming-of-age-Geschichte? Eine Tochter-Mutter-, Bruder-Schwester-Studie? Ein Josefs-Roman?
Der Rezensent ist sich wirklich nicht ganz sicher – und hat den Roman mehrfach gewendet, in die Ecke geworfen, wieder hervorgeholt, neu gestartet, verzweifelt aufgegeben und dann doch bis zum Ende gelesen. Geholfen hat ganz sicher, die Befriedigung primitivster Rachegelüste – und ja, ganz sicher ist der Rezensent hier in die plakativ aufgestellte Falle des Autors getreten.
Der Inhalt ist einfach erzählt. Xenia, eine alles andere als fremdenfeindliche Studentin der Germanistik, kehrt, frisch von einem griechischen Kommilitonen geschwängert, zurück in ihr Heimatdorf, in dem auch eine Gruppe Geflüchteter eine zeitweise Duldung erfährt – natürlich nicht ganz zur Freude aller Dorfbewohner. Xenias Mutter ist ein wenig die gute Seele, hilft den Geflüchteten und vermittelt zwischen den Gutmenschen und den Schnullernazis. Xenia versucht sich wieder in den Dorfalltag zu integrieren, ebenso wie die Geflüchteten. Doch Xenias Bruder, Josef, agitiert in bester fremdenfeindlicher Manier, wird allerdings durch den Burgherrn eingepfercht. Der Burgherr ist so eine Art stiller Mäzen des Dorfes, der mit seiner finanziellen Macht einen Ausgleich herzustellen versucht. Eine Parallelaktion in Form einer vermeintlichen Spinnenepidemie und eines Brandes sowie ein unmoralischer Pakt zwischen Xenias Mutter und dem Burgherren, lassen den Dorf- und Xenophobie-Roman abheben.
Das klingt doch alles sehr realistisch, im Sinne von: inspiriert vom Weltgeschehen. Das, was dann kommt, inklusive der ersten beide Tage nach der Geburt von Xenias Kind, ist nicht in die Kategorie eines realistischen Romans zu fassen – bei Lichte betrachtet. Der Leser erfährt eine dörfliche Welt in hysterischer Unruhe, gegenseitigem Verrat, Misstrauen und allgegenwärtiger Aufstachelung inklusive eines waschechten Brandanschlags. Irgendwie passt die zufällige Hörerfahrung von Genesis‘ ‚Domino‘:
«Blood on the windows
Millions of ordinary people are there
They gaze at the scenery
They act as if it is perfectly clear
Take a look at the mountains
Take a look at the beautiful river of blood»
Blut fließt im Roman zugegebenermaßen, trotz eines Todesopfers, kaum – aber die Szenerie ist nur ein klitzekleines Stück davon entfernt.
Das ist aber nur die eine Seite des Romans – die andere zeigt einen in bewundernswerter Leichtigkeit formulierenden Autor, der irgendwo tief in seinem Herzen einen kleinen, schönen, harmlosen, aber doch irgendwie gewitzten, klugen, mindestes zweideutigen Dorfroman schreiben möchte, während er sein Stipendium im nicht minder provinziellen, wenn natürlich auch geistig hochstehenden Bamberg absolviert. Wir Bamberger Absolventen dürfen jetzt natürlich auch noch rätseln, welches Dorf rund um Bamberg sich Poschenrieder als Kulisse dieses Romans auserwählt hat.
Ja, leicht macht er es seinen Lesern nicht – umso lesenswerter aber ist sein Roman. Trotz aller Kritikpunkte, die dem Autor ja nur mangelnde Eindeutigkeit vorwerfen – und ihm damit gleichzeitig bestes literarisches Handwerk attestieren, ist ‘Kind ohne Namen’ ein kleines, aber funkelndes Kleinod, das erobert, erlesen werden will und dabei jede Menge Leseemotionen für sich in Anspruch nimmt.
Cover © Diogenes
- Autor: Christoph Poschenrieder
- Titel: Das Kind ohne Namen
- Verlag: Diogenes
- Erschienen: 2017
- Einband: Gebunden
- Seiten: 288
- ISBN: 978-3-257-07000-2
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Wertung: 12/15 dpt