Didier Fassin – Das Leben (Buch)


Didier Fassin - Das Leben (Cover © Suhrkamp)Das Leben. Eine kritische Gebrauchsanweisung? – Das klingt ein wenig nach genau dem Buch, das man um die Jahreswende, zusammen mit all jenen berüchtigten Vorsätzen für das neue Jahr lesen sollte. Doch es ist alles – nur keine Gebrauchsanweisung. Didier Fassin ist kein Lebensratgeber, sondern Arzt, Soziologe, Anthropologe, in Princeton lehrend.

Die Texte dieses Buches basieren auf den 2016 an der Universität zu Frankfurt gehaltenen Adorno-Vorlesungen. Fassin beginnt sogleich auch mit den offenkundigen Verweisen zu Theodor W. Adorno, der Frankfurter Schule und natürlich auch zu Pierre Bourdieu, der, so scheint es, in den aktuellen Publikationen französischer Philosophen wieder Konjunktur hat. Tatsächlich gelingt es neben Fassin auch Didier Eribon oder Edouard Louis, Bourdieus Kategorien auf die aktuellen nationalistischen, fremden und flüchtlingsfeindlichen Entwicklungen anzuwenden und Erklärungsansätze zu liefern.

Dabei hat jeder der drei genannten seinen je eigenen Ansatz – alles andere wäre auch höchst verwunderlich. Fassin bleibt über weite Strecken ganz der Sozialanthropologe und konzentriert sich auf den Begriff des Lebens und konjugiert das Leben durch biologische, soziologische, politische und biographische Sphären und weist die teilweise gravierenden Unterschiede in der Bewertung des Lebens auf. Er arbeitet sich in den drei Hauptkapiteln „Formen des Lebens“, „Ethik des Lebens“ und „Politik des Lebens“ an den Denkmodellen von Ludwig Wittgenstein, Hannah Ahrends, Walter Benjamins und Michel Foucaults ab und kreiert aktuelle Lebens-Modelle, denen zu Grunde liegt, wie willkürlich und teilweise extrem anti-aufklärerisch der Lebenswert ermessen wird.

Dass nun keiner daherkommt, zu meinen, dies sei doch ausschließlich akademisches lebensfernstes Philosophengewerk, unterstützt Fassin seine Argumentationen mit empirischen Fall- und Feldstudien. Diese sind für nicht-Philosophen auch unbedingt nötig, dürften die Texte tatsächlich 1:1 Transkripte seiner universitären Vorträge sein. Wer also zufällig nicht regelmäßig als Student an selbigen teilnimmt, dürfte so manchen Gedankengang mehrmals wiederholen, um ihn gänzlich zu erfassen bzw. ihn aus seiner professoral-stilistischen Schale zu pulen. Doch genau diese Mühe lohnt sich.

Natürlich lassen wir uns gerne einreden, wir West-Europäer seien diejenigen, die die moralischen Werte der Aufklärung verinnerlicht haben und erheben uns dadurch gerne all zu schnell über all jene, denen wir dies absprechen. Doch wenn wir uns ernsthaft fragen, warum urplötzlich im Jahre 2017 knapp nur noch 200.000 neue Flüchtlinge in Deutschland haben, obwohl die Zahl der Geflüchteten weltweit zunimmt, so liegt ein Teil der Antwort darin, dass wir eine Umwertung des Wertes „Leben“ vorgenommen haben – und dazu auch noch formuliert haben, welches Leben nach Europa darf und welches nicht. Mehr noch: Wir Europäer schreiben Afrikanern vor, in welchem Maße sie auf ihrem Kontinent zu wandern haben. Dass damit auch zentrale Teile der Menschenrechte missachtet werden, nehmen wir billigend in Kauf.

Die größte Stärke des Buches liegt darin, dass es Didier Fassin gelingt, seine Thesen nüchtern und ohne moralischen Zeige- oder Mittelfinger zu präsentieren. Natürlich macht er sich damit unangreifbarer, gibt sich wissenschaftlich korrekt und so gar nicht entertaining. Und doch erzeugt Didier Fassin beim Rezensenten einen sicherlich tieferen und nachhaltigeren Eindruck – und bietet dann im Sinne des politischen Engagements doch so etwas wie eine Lebensberatung: Niemand muss zu jedem Thema eine Meinung haben, schon gar keine abgeschlossene – aber eine politische Haltung!

  • Autor: Didier Fassin
  • Titel: Das Leben – Eine kritische Gebrauchsanweisung. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2016.
  • Seiten: 191
  • Übersetzung: Christine Pries
  • Verlag: Suhrkamp
  • Erscheinungsjahr: 2017
  • ISBN: 978-3-518-58710-2
  • Produktseite beim Verlag

Wertung: 11/15 dpt


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