Dass Charlize Theron kämpfen und zuschlagen kann, hat sie bereits einarmig in “Mad Max –Fury Road” bewiesen. Jetzt ist sie als eiskalte Agentin im wendegebeutelten Berlin unterwegs, in jenen schicksalhaften Tagen im November 1989 als die Grenzöffnung endlich Wirklichkeit wurde und die Mauer fiel, beziehungsweise zerschlagen wurde. Doch deswegen hält sich Theron nicht in der künftigen gesamtdeutschen Hauptstadt auf. Sie treibt um, was hinter eisernen, nikotinvergilbten, weißen oder grauen Vorhängen an Ungemach anfiel. Angerichtet – meist – von Männern gleichen Schlags, die nur zufällig auf unterschiedliche Seiten der herrschenden politischen Verhältnisse geraten sind und sich von dort aus erbittert bespitzeln, umschmeicheln und bekriegen. Berlin als universeller Schmelztiegel einer globalen Agentenparade, die kaum durchschaubar scheint, insbesondere, da einige der Beteiligten Diener*innen mehrerer Herren sind.
Charlize Theron ist Debbie Harry, ach falsch, Lorraine Broughton, Agentin des MI6 und die titelgebende “Atomic Blonde”. Irritierenderweise verzichtet der ansonsten feine Achtziger-Jahre-Soundtrack auf das naheliegende “Atomic” von Blondie. Broughton wird beauftragt eine Liste zu organisieren, die alle Namen der in Berlin agierenden Spione enthält und den übertrittswilligen Stasi-Offizier mit dem Decknamen “Spyglass”, in den Westteil des in Auflösung begriffenen Berlin, zu eskortieren. Spyglass ist ein wertvolles Gut, er kennt diese Liste (angeblich) auswendig. Der KGB hat logischerweise etwas gegen den Transfer, außerdem ist der noch nicht enttarnte Doppelagent namens Satchel ein Gefahren- und Unsicherheitsfaktor im aufreibenden Spionagespiel. Die Grundlagen für konfliktreiche Schlagetot-Begegnungen sind also gelegt.
Damit hätten wir den Filmplot abgehakt. “Atomic Blonde” basiert auf der Gothic Novel “The Coldest City” (das war auch der ursprüngliche Titel des Films) von Texter Antony Johnston und Illustrator Sam Hart. Die Zelluloid-Version schafft es locker, flacher als ein Comic Strip zu bleiben, der vor Logiklöchern nur so strotzt. Warum macht sich Spyglass solch einen Stress? Die DDR ist am Ende, die Grenze öffnet sich. Ein paar Tage, Wochen warten, und er hätte in Seelenruhe mit seiner Familie im Schlepptau in den Westen spazieren können. Wichtig für die alliierten Geheimdienste ist er per se nicht, denn die ominöse Liste existiert nicht nur in seinem Kopf, sondern auch in mindestens einer Armbanduhr, die mehrfach den Besitzer wechselt. Warum Amerikaner, Briten, Russen und Franzosen so einen Aufrieb bewerkstelligen, während die ostdeutsche Staatssicherheit und der westdeutsche BND außen vor bleiben, erschließt sich ebenfalls nicht.
Um von der Abwesenheit einer komplexen Story abzulenken werden Rückblenden bemüht. Lorraine Broughton sitzt mit ihrem MI6 Vorgesetzten Eric Gray (siehe auch “Sixty Spyshades Of Gray”) und dem CIA-Agenten Emmett Kurzfeld in einem Verhörraum und erzählt von ihren actionreichen Abenteuern im Moloch Berlin. Hinter dem obligatorischen Einwegspiegel steht der ominöse Chief “C” und beurteilt die unbefriedigende Gesamtsituation. Falls die Frage aufkommt, ob sich die angeschlagene Blondine heil aus der Affäre, die einige belastende Momente gegen sie aufweist, ziehen kann: Fragt nicht. Ihr habt schon Filme gesehen.
“Atomic Blonde” spielt in einer Parallelwelt, in der Budapest 2017 so aussehen soll wie Berlin 1989, was nur mäßig hinhaut. Die Atmosphäre, nicht die Qualität, erinnert eher, trotz Mauerspechten und eingestreuter Originalaufnahmen mit dem zweitübelsten Präsidenten nach Donald Trump, an die Sechziger, als die Spione aus der realen Kälte – und nicht der mit Eiswürfeln gefüllten Badewanne – kamen. “Die Bourne Verschwörung” hat wesentlich eindrücklichere Berlin-Bilder geboten. Hier bekommen vor allem die Verantwortlichen für Farbfilter, explizit kobaltkaltes Blau und schimmeliges Grün, viel zu tun. Da “John Wick”-Co-Regisseur und jetziger Alleinverantwortlicher David Leitch auf weiträumige Total-Einstellungen (wohlweislich) fast gänzlich verzichtet, sieht selbst eine Montags-Demo aus wie ein Kleingruppenausflug durch den Mauerpark im Regen. Schön ist allerdings, dass fast jeder Berlin als aufregende Stadt lobt und der ein oder andere sogar bereit ist, mit einem “Ich liebe Berlin” auf den Lippen, zu sterben. Berlin ist eine Wolke, wohl wahr. Manchmal aus zerstäubendem Blut.
Besetzungstechnisch ist der Film eine Bank, deren Guthaben allerdings nichts beansprucht wird. James McAvoy hat so etwas wie die männliche Hauptrolle inne, agiert als Berliner MI6-Vertreter Percival in etwa so, als sei er vom “Drecksau”-Set umgehend auf einen Rave in den Berliner Untergrund geeilt. Für den dargestellten Typus wurde der Begriff “Spacken” kreiert. John Goodman sitzt seine Zeit als CIA-Mann auf einer Pobacke ab, die charismatische Sophie Boutella wird als naive französische Agentin und Broughtons Love Interest Delphine vergeudet, darf aber immerhin bei ihrem Abgang kurz aufblühen. Der bereits wegen seiner Darstellung des Mr. May unvergleichliche Eddie Marsan als Spyglass ist selbst im Schlafwandelmodus sehenswert.
Toby Jones spielt Eric Gray mit angenehm altmodischer Routine. Til Schweiger fällt nicht unangenehm auf, im Gegenteil, als wortkarger, stoischer Uhrmacher ist er endlich einmal passend besetzt. Seine kurze Leinwandzeit erledigt den Rest. Sehr schön auch, dass ein altgedienter B- und C-Film-Recke wie Daniel Bernhardt, schlagkräftig, wenn auch kaum zu erkennen, wieder einmal in einer großen Produktion auftreten kann. Bevor er das Clownskostüm und den roten Ballon aus dem Spind holt, gibt sich Bill Skarsgård als Ost-Berliner-Verbindungsmann namens “Merkel” die Ehre. Gelungener Gag und coole Performance. Dass Barbara Sukowa mitspielt, steht so in der Besetzungsliste.
Über allem thront Charlize Theron. Die drögen Handlungsparts erledigt sie mit Links und der ihr eigenen Präsenz, in den Kampfszenen blüht sie auf. Und die sind tatsächlich ein Hingucker. Verzichtet David Leitch doch auf allzu hektische Schnitte und zweifelhafte CGI-Routinen. Theron arbeitet sich durch viele Sequenzen ohne Stunt-Double und das bekommt sie verdammt gut hin. Die Kämpfe in “Atomic Blonde” sind derbe, brutal und tun beim Anschauen weh. Wenn Theron und Bernhardt zum zweiten Mal aufeinandertreffen kostet das Kraft bis zur schweratmigen Erschöpfung. Es gelingt Regisseur und Team die Action sowohl gekonnt wie verzweifelt und zwingend aussehen zu lassen. Kein stylisches Drahtgewirbel, vom Computer aufgepeppt, die (gepolsterte) Treppe wird im Sturzflug hinunter gepoltert. Anschließend gibt die Hauptdarstellerin eine Runde aus, weil sich keiner der Stuntleute ernsthaft verletzt hat.
Als Resümee bleibt ein Film, dessen Inhalt gegen den Nullpunkt strebt, weswegen die handlungsorientierten Passagen trotz der fulminanten Darstellerriege blass bleiben. Was Soundtrack und Action angeht, kann “Atomic Blonde” hingegen punkten. Nicht, weil es spektakulär und visuell atemberaubend daher kommt, sondern darauf verweist, dass Schauspiel und Kampf harte Arbeit sind, was es zu honorieren gilt. Das Vehikel, das Charlize Theron auf Augenhöhe mit James Bond und Jason Bourne bringt, muss allerdings noch entwickelt werden. Die Schauspielerin selbst bringt alle Voraussetzungen locker mit.
PS.: Die schönste Szene des Films findet sich übrigens im Bonusteil. Dort treffen sich in einem nicht verwendeten Segment eine Handvoll KGBler und reden im Original deutsch miteinander, englisch untertitelt. Das sieht dann wie folgt aus:
“Da war jemand mit ihr!”
“Was?”
“Percival.”
Daraus wird im Untertitel: “The First Case.” Man muss schon viel Fantasie besitzen, um die Namensnennung als “Örster Fall” zu interpretieren. Sehr putzig indeed.
Cover und Bilder © Universal Pictures Germany
- Titel: Atomic Blonde
- Produktionsland und -jahr: Schweden, Deutschland, USA, 2017
- Genre: Action, Spionage-Thriller
- Erschienen: 22.12.2017
- Label: Universal Pictures
- Spielzeit:
110 Minuten auf 1 DVD
115 Minuten auf 1 Blu-Ray - Darsteller:
Charlize Theron
James McAvoy
Sofia Boutella
Eddie Marsan
John Goodman
Toby Jones
Bill Skarsgård
James Faulkner
Roland Møller
Sam Hargrave
Jóhannes Haukur Jóhannesson
Til Schweiger
Daniel Bernhardt
- Regie:
David Leitch
- Drehbuch:
Kurt Johnstad
Vorlage: Antony Johnston
Sam Hart
- Kamera:
Jonathan Sela
- Musik:
Tyler Bates
- Extras:
Unveröffentlichte Szenen: Willkommen in Berlin, Blond und Bewaffnet, Meister der Spione, Anatomie einer Kampfszene, Eine Geschichte in Bewegung. Filmkommentar mit Regisseur David Leitch und Cutterin Elisabet Ronaldsdottir, Trailershow
- Technische Details (DVD)
Video: 16:9; 2.40:1
Sprachen/Ton: Deutsch, Dolby Digital 5.1 AC-3;Italienisch, Dolby Digital 5.1 AC-3;Englisch, Dolby Digital 5.1 AC-3;Französisch, Dolby Digital 5.1 AC-3
Untertitel: Deutsch, Italienisch, Englisch, Französisch, Niederländisch
- Technische Details (Blu-Ray)
Video: 16:9; 2.40:1
Sprachen/Ton: Italienisch, DTS 5.1; Deutsch, DTS:X;Englisch, DTS:X; Französisch, DTS 5.1
Untertitel: Deutsch, Italienisch, Englisch, Französisch, Niederländisch
- FSK: 16
- Sonstige Informationen:
Produktseite
Wertung: 8/15 Lizenzen zum Töten
Kann Charlize Theron einen schlechten Film machen?
Ja, kann sie (The Astronaut’s Wife, 15 Minuten Ruhm, Fast & Furious 8 + 9; The Old Guard war auch nicht der Burner). Aber sie macht schlechte Filme besser.