Das Schwein, nose to tail, eignet sich prima als Dingsymbol. Maigret ist jetzt bei Suhrkamp. Europa hat nun auch seine Parallelaktion.
Und Robert Menasse hat nicht nur seinen neuen Roman ‘Die Hauptstadt’ herausgebracht, sondern inzwischen auch den Deutschen Buchpreis gewonnen. Der Rezensent, den eine ganze Menge, manchmal mehr als er sich zugestehen traut, mit Robert Menasse und seinem Werk verbindet, gratuliert auch auf diesem Wege sehr herzlich und kann nicht anders, selbst nach Substraktion der in Abzug zu bringenden subjektiven Elemente, als hier in den Lobesreigen einzustimmen.
Vielleicht vorurteilt so mancher, das sei doch poetisiertes Hirngewichse, typische Suhrkamp-Literatur. Geschenkt. Denn das, was Robert Menasse schon immer beherrscht wie kaum ein anderer, ist, seine Ideenromane mit einer großen Portion Sinnlichkeit und einem pennälerhaften Humor, spielerischen Assoziationen sowie eigentlich unglaublichen Pointen anzureichern; mit diesem Gefälle, wo auf Musil und Hegel Herrenwitze folgen, muss man als Leser auch erst einmal zurecht kommen.
Doch verlassen wir kurz mal die stilistische Ebene und klären, was auf der Handlungsebene eigentlich so passiert: Fenia Xenopoulo, Beamtin in der Generaldirektion „Kultur“ der Europäischen Kommission, bekommt die ruhmreiche Aufgabe übertragen, den 50. Jahrestag der Gründung der Kommission zu planen. Wir erfahren sehr eindrücklich, welchen Wert die Kultur im Rahmen der Europäischen Kommission hat – und wissen: Wir haben es mit unbedingten Idealisten und/ oder Gescheiterten zu tun. Ein Roman von unten also – ein Schelmenroman?
Wie auch immer: Fenia beauftragt den österreichischen Referenten Martin Susmann, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Schnell keimt in ihm die Idee, die europäischen Überlebenden von Auschwitz zentral mit einzubinden. Das scheint auch so weit in Ordnung zu gehen – bis zu dem Punkt, an dem Susmanns und Xenopoulos Plan, die Organisation dieses Tages am Europäischen Rat vorbeizuschleusen, intrigant umgangen wird. Wer noch nie wirklich gelesen oder erfahren hat, wie Ideen aus der Kommission vom Europäischen Rat kassiert werden, der findet in diesem Roman denkwürdige Szenen. In einem guten aufklärerischen Sinne, spiegelt Menasse hier auch einen der zentralen Knackpunkte des politischen Europas.
Der Rezensent kann und will nicht einstimmen in den Reigen derer, die behaupten, nun sei Menasses genuine Leistung, zu zeigen, dass Europa keine Krake oder ein rein bürokratisches oder technokratisches Gebilde sei. Das, Entschuldigung, sollte jeder, der halbwegs politisch interessiert ist, als Selbstverständlichkeit anerkennen – oder den ‘Europäischen Landboten’ von Robert Menasse und Ulrike Guérots ‘Warum Europa eine Republik werden muss’ lesen.
Nein, Robert Menasse gelingt es, Protagonisten zu schaffen, die sich ihrer Zeitgenossenschaft mal mehr, mal weniger bewusst und ihr ausgesetzt sind. Er zeigt Menschen, die sich an lustlosen Geplänkeln erfreuen, denen die Friedenslangeweile zum Halse heraushängt, die nicht willens oder fähig sind, das Projekt Europa, wie auch immer, nach vorne zu tragen. Er zeigt aber auch Menschen, die an einer Utopie arbeiten, Alternativlosigkeiten nicht anerkennen – und durchaus auch mal schrullig, unbequem, aber im Falle von Alois Erhart, mit höchster Eloquenz und geistiger Schärfe Visionen aufzeigen und sich an ihnen abarbeiten, aufreiben – und vielleicht auch durchsetzen.
Dabei ist es schon auch bemerkenswert, mit welcher erzählerischen Lässigkeit Umtriebe des Vatikan, der Flüchtlingstreck von Ungarn nach Österreich, eine Muslimin als Jungfrau Maria und ein vertuschter Mord in diesem Roman eingebunden werden können. Tatsächlich schafft es Menasse, ein so vielfältiges Mosaik des aktuellen Europas zu einem doch irgendwie zusammenhängenden Gebilde zu gestalten.
Daneben sind etliche Fakten über Aufbau und Arbeit der europäischen Institutionen eingearbeitet und auch literaturwissenschaftlich Interessierte dürfen sich über eine schon fast überbordende Zahl an intertextuellen Verweisen freuen und sie alle in den kommenden Magister- und Doktorarbeiten verwursten.
‘Die Hauptstadt’ gehört ganz sicher zu den gedanken-, facetten- und pointenreichsten Romanen dieses Jahres. Dabei sind es eben nicht nur die Ideen, die diesen Roman tragen. Es sind die Protagonisten, über die wir hier schon gesprochen haben und es ist das meisterliche Arrangement Robert Menasses, all diese Charaktere mitsamt all ihrer Ideen und ihrer Episoden zu- und gegeneinander zu stellen. Das, was Europa auf der Meta-Ebene ein wenig fehlt: eine Idee und eine Geschichte, über diesen perfekten Zweiklang verfügt ‘Die Hauptstadt’! – Und am Ende zeigt sich der wahre Nutzen des Doppelpasses und auch unser Schwein taucht wieder auf und gräbt sich durch den Soldatenfriedhof. Man sollte ihn schon mögen, den 1.-November-Humor des Autors Robert Menasse.
Cover © Suhrkamp
- Autor: Robert Menasse
- Titel: Die Hauptstadt
- Verlag: Suhrkamp
- Erschienen: 2017
- Einband: Gebunden mit SU
- Seiten: 459
- ISBN: 978-3-518-42758-3
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Wertung: 14/15 dpt
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