Wulf Dorn – Die Kinder (Buch)

Wulf Dorn - Die Kinder (Cover © Heyne)«Sie sollen aufhören! Sagen Sie Ihnen, dass sie aufhören sollen!»

Dieser Satz ist nur ein kleiner Teil dessen, was Laura Schrader erlebt hat. Nach einem schweren Unfall wird die junge Frau aus ihrem Wagen geborgen – im Kofferraum liegt die Leiche ihrer kleinen Nichte. Was ist geschehen? Und warum sind die gesamten Einwohner eines kleinen Dorfes spurlos verschwunden? Wie hängen die beiden Ereignisse zusammen? Um das herauszufinden wird der Psychologe Robert Winter zu Hilfe gerufen, der die völlig verstörte Laura befragen soll. Als sie ihm ihre Geschichte erzählt, zweifelt er an ihrem Verstand, ist sich aber sicher, dass irgendwo in den wahnhaften Äußerungen die Wahrheit versteckt liegt. Viel zu spät erkennt er, womit er es tatsächlich zu tun hat.

Zunächst klingt all das nach einem spannenden Psycho-Thriller – und genau mit dieser Erwartung beginnt man zu lesen. Umso ärgerlicher ist es, wenn sich schließlich herausstellt, dass man es eben nicht mit einem normalen Thriller zu tun hat. Vielmehr erwarten den Leser in diesem Buch allerlei Mystery- und Horror-Elemente. Absolut nicht das, was man von Wulf Dorn gewohnt ist. Und genau hier liegt das Problem: Liest man einen Thriller von Wulf Dorn hat man eine gewisse Erwartungshaltung. Man rechnet mit einer eher realistischen, spannenden und gut durchdachten Geschichte. „Die Kinder“ ist zwar spannend, aber alles andere als realistisch. Die Leser zu überraschen und etwas Neues zu probieren, ist an sich eine gute Idee. Allerdings wäre es schön, wenn dies auf den entsprechenden Büchern dann auch vermerkt wäre. Gerade „Stammleser“ möchten doch gern wissen, worauf sie sich einlassen, um am Ende nicht enttäuscht zu werden. Warum nicht Mystery-Thriller drauf schreiben, wenn Mystery-Thriller drin steckt?

Was man „Die Kinder“ sicher nicht vorwerfen kann, ist ein zu geringes Tempo. Schon mit der ersten Seite ist man direkt im Geschehen, es geht sofort zügig los. Recht schnell treffen wir auf Laura Schrader, die eingeklemmt in ihrem verunfallten Auto immer wieder das Bewusstsein verliert. Gefunden wird sie zunächst vom Ex-Mann ihrer Schwester, der auf der Suche nach seiner Ex-Frau an der Unfallstelle auf der einsamen Bergstraße vorbeikommt. Er ruft noch den Notarzt, bevor er einen Blick in den Kofferraum wirft und dort seine tote Tochter findet. Völlig schockiert flüchtet er ins nahegelegene Dorf – danach ist er spurlos verschwunden. Nach diesem rasanten Prolog finden wir uns gemeinsam mit Laura in einer psychiatrischen Klinik wieder, wo sie ihre Geschichte erzählt. Die Neugier ist zweifellos geweckt.

Nun springt die Handlung immer wieder zwischen der Gegenwart in der Klinik und der von Laura erzählten Vergangenheit. Unterbrochen wird der Plot von grausamen Geschehnissen aus aller Welt, bei denen Kinder auf ganz unterschiedliche Weisen leiden müssen. Dabei lernt der Leser nicht nur Laura und Robert Winter kennen, sondern auch Lauras Schwester Su und deren Tochter. Die beiden Frauen stehen sich sehr nahe, leben aber in ganz unterschiedlichen Welten und haben jede für sich mit Problemen zu kämpfen. Von einem gemeinsamen Ausflug zum Ferienhaus der verstorbenen Eltern erhoffen sie sich ein wenig Entspannung.

Während Laura durch und durch Karrierefrau ist, geht ihre Schwester in ihrer Mutterrolle auf. Beide Frauen sind überzeugend gezeichnet – man kann für beide in ihren jeweiligen Situationen Verständnis aufbringen, sich in sie hineinversetzen und ihre Gedanken gut nachvollziehen. Man fragt sich immer wieder, wie man selbst wohl reagieren würde, und baut eine gewisse Nähe zu Laura und Su auf. Die Schwestern halten zusammen, stützen sich gegenseitig. Auch ihnen fällt es schwer, zu verstehen, was um sie herum geschieht – genau wie dem Leser.

Die Ereignisse wirken wirr, lange ist unklar, wie alles zusammenhängt. Die Auflösung ist schließlich nicht nur weit entfernt von der Realität, sondern zudem ein einziger erhobener Zeigefinger. Im Kern ist „Die Kinder“ eine deutliche Gesellschaftskritik, die aber nicht auf subtile Weise hervorgebracht, sondern mit dem Holzhammer eingeprügelt wird. Die Einbindung in einen übernatürlichen Kontext schwächt diesen Eindruck nicht ab, sondern unterstützt ihn eher noch. Dass Wulf Dorn hier grundlegende Probleme anspricht und dem Leser leider sehr reale Missstände vor Augen führt, ist gut und wichtig – nur ist die Frage, ob die Form glücklich gewählt ist.

Wie von Wulf Dorn gewohnt, ist der Schreibstil überaus flüssig und wunderbar zu lesen – so fliegt man trotz des ungewöhnlichen Inhalts schnell durch die Seiten und möchte wissen, wo die Geschichte hinführt. Der Autor ist ohne Zweifel ein sehr guter Erzähler und weiß den Leser zu fesseln. Manches ist sicherlich vorhersehbar, dennoch fehlt es in “Die Kinder” nicht an Überraschungen.

Fazit: „Die Kinder“ ist ein Mystery-Thriller mit Horror-Elementen. Leider ist dies im Vorhinein nicht ersichtlich. Wer realistischere, schlüssige Handlungen bevorzugt und unter anderem genau deshalb zu einem Buch von Wulf Dorn greift, wird von seinem neuen Werk vermutlich enttäuscht sein. Weiß man aber, worauf man sich einlässt, liest man hier eine durchaus spannende, temporeiche Geschichte in gewohnt ausgefeiltem Schreibstil. Die Auflösung ist gewöhnungsbedürftig und hätte dem Leser sehr gerne auf subtilere Weise präsentiert werden können.

Cover © Heyne

Wertung: 8/15 verschwundene Dorfbewohner

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