«Da Keyes vor jedem Treffen mit dem Capo nach Waffen abgesucht wird, muss ihn jemand begleiten, der selbst eine Waffe ist. Jenny Aaron.»
Jenny Aaron ist zurück! Die Erwartungen an den Nachfolger von „Endgültig“ hätten nicht größer sein können. Der erste Teil um die Elite-Polizistin einer geheimen Sondereinheit, die während eines Einsatzes erblindet und dennoch eine der stärksten, eindrucksvollsten Frau der Thriller-Geschichte bleibt, hat sprachlos gemacht, aufgewühlt, für Gänsehaut gesorgt und die Nerven vor Spannung zerrissen. Wie soll man daran anknüpfen? Wie nach diesem fulminanten Start noch überraschen? Soviel sei vorweggenommen: Andreas Pflüger hat es geschafft.
Jenny Aaron gehört zur „Abteilung“ – einer Organisation, die offiziell nicht existiert. Wenn dem BKA Einsätze zu heikel sind, kommt die Abteilung ins Spiel. Als Aaron dort anfing, war sie die einzige Frau unter vierzig Männern. Schnell war klar: Mit ihr legt man sich lieber nicht an. Dann erblindete sie während eines Einsatzes und kehrte der Abteilung den Rücken. Doch nun holt sie ihre Vergangenheit ein. Ihr Todfeind, der Mann, der sie blendete, hat ihr ein Vermögen vermacht. Zwei Milliarden Euro, steuerfrei. Aber warum? Um das Rätsel zu lösen, muss Aaron zurück zur Abteilung, um in Marrakesh nach der Wahrheit zu suchen. Was sie dort findet, lässt ihre schlimmsten Albträume wahr werden. Aber es zeigt auch, dass eine blinde Aaron kein bisschen weniger tödlich ist als eine sehende. Im Gegenteil: Die Schwärze um sie herum macht sie nur noch gefährlicher.
Schon nach den ersten Seiten ist klar, dass Andreas Pflüger nichts von der Stärke und Intensität seines ersten Aaron-Thrillers eingebüßt hat. Sofort fängt er den Leser in der Geschichte ein, die nahtlos an den ersten Band anschließt, und lässt ihn bis zur letzten Seite nicht mehr los. Man verliert sich komplett in diesem Buch, das einerseits so actiongeladen, gewalttätig und vollgepumpt mit Adrenalin und andererseits so tiefgründig und komplex ist, dass man während des Lesens nicht einmal die kleinste Ablenkung zulassen kann. Jede Information, auch wenn sie zunächst unbedeutend scheint, könnte entscheidend für den weiteren Verlauf der Handlung sein. Pflüger verlangt dem Leser eine Menge Konzentration ab, erwartet von ihm, dass er mit- und weiterdenkt, eigene Schlüsse zieht, das Ungesagte selbst ergänzt. Allein das hebt sowohl „Endgültig“ als auch „Niemals“ schon deutlich vom Gros der Thriller ab. Aber das ist noch lange nicht alles.
Jenny Aaron ist ein Charakter, den es kein zweites Mal gibt, kein zweites Mal geben kann. Zu sagen, sie sei eine Kämpferin, eine selbstbestimmte, starke Frau, kratzt nur an der Oberfläche. Aaron ist mit Worten kaum zu beschreiben, man muss sie erlebt haben. Ja, sie ist auch ein wenig Superheldin, scheinbar unkaputtbar und ganz bestimmt keine Person, die in dieser Form in der Realität existieren könnte. Und doch ist sie lebendig und so voller Tiefe gezeichnet, dass man meint, sie vor sich zu sehen. Eigentlich sollte es nahezu unmöglich sein, sich mit ihr zu identifizieren, denn niemand wäre wohl – schon rein physisch – in der Lage, sich in sie hineinzuversetzen. Und doch fühlt man sich ihr ungeheuer nah. Trotz der explosiven Kraft, die sie in sich bündelt, zeigt sie auch Schwächen. Ihre Blindheit kann sie nicht verarbeiten, nicht sehen zu können, stürzt sie immer wieder in emotionale Löcher. Unbewusst leugnet sie, blind zu sein, und versucht sich weiterhin wie eine Sehende zu verhalten. Zugleich nutzt sie die Dunkelheit als Waffe, setzt sie im Kampf ein, um ihre Gegner in die Knie zu zwingen.
Aaron zu begleiten ist eine wilde Achterbahnfahrt, die von Schüssen, Schlägen und Tritten eingerahmt wird. Die Nerven werden auf eine verdammt harte Probe gestellt. Manchmal hilft es, „Niemals“ hin und wieder kurz zuzuschlagen und eine kleine Verschnaufpause einzulegen, um das Gelesene zu verarbeiten. Schuld daran sind nicht etwa die immense Brutalität und Waffengewalt, die den Leser unerbittlich durch die Seiten treiben. Vielmehr sind die Wendungen zum Teil so erschütternd und schwer zu verdauen, dass man kurz innehalten muss. Hierbei springt Pflüger glücklicherweise nicht auf den Cliffhanger-Zug auf, der mittlerweile bei vielen Autoren zu beliebt geworden ist, sondern lässt oft mitten in der Handlung ein Wort, einen Satz fallen, der dem Leser – hier muss nun zu einer Floskel gegriffen werden, die es in diesem Fall einfach am besten trifft – das Blut in den Adern gefrieren lässt. Dabei hält sich das hohe Niveau bis zum Schluss; die Auflösung treibt die immer wieder aufkeimende Gänsehaut schließlich ans Maximum. Und auch, wenn das Ende ein wenig zu abrupt erscheint, passt es letztendlich zur Geschichte und zu Aaron. Wieder verzichtet Pflüger auf Klischees und verstrickt sich nicht in endlose Dialoge, die den Showdown einläuten, sondern lässt ihn einfach geschehen. Insgesamt ist „Niemals“ sicherlich nicht der realistischte unter den Thrillern – das soll er auch gar nicht sein. Jenny Aarons Geschichte schießt eigentlich in allem übers Ziel hinaus, gibt dem Leser aber trotzdem in jeder Sekunde das Gefühl, die Ereignisse hautnah mitzuerleben und Teil der Abteilung zu sein.
Neben der Haupthandlung erfahren wir in Rückblicken immer wieder wichtige Details aus Aarons Vergangenheit – und aus der Vergangenheit der Abteilung. Wie sind die Teammitglieder zu denen geworden, die sie heute sind? Hierauf gibt es Antworten, die den Leser noch stärker an Aaron und ihre Wegbegleiter binden. Auch die Blicke in die Vergangenheit geschehen nicht ohne Grund. Sie sind weitere Puzzlestücke, mit deren Hilfe die Zusammenhänge scheibchenweise aufgedeckt werden.
All das erzählt Pflüger in einer Sprache, die ebenso einzigartig ist wie Jenny Aaron. Schnoddrige, vor schwarzem Humor strotzende Dialoge wechseln sich mit poetischen, bildhaften, manchmal abstrakten Beobachtungen und eigenwilligen Metaphern ab. Selbst abgehackte Sätze sind oft wortgewaltig, tiefsinnig. Manches muss man zweimal lesen, um es wirklich zu begreifen. Pflügers Worte sind mal sanft und weich, mal hart und gnadenlos. Bei aller Härte und Abgeklärtheit fehlt nie die Emotion. Die innige Liebe zwischen den Protagonisten – rein platonisch – schwingt immer mit, manchmal ganz deutlich, manchmal unsichtbar zwischen den Zeilen. Pflügers Stil ist sicherlich einer, den man mögen muss, der nicht jedem gefällt. Wer sich aber dafür begeistern kann, wird sich schon allein aufgrund der Sprache in seinen Büchern verlieren und mehr davon wollen.
Zum Schluss soll die eindrucksvolle Recherche, die der Autor für seine Thriller betreibt, nicht unerwähnt bleiben. Er arbeitet nicht nur eng mit dem BKA, Psychologen und verschiedensten Experten, sondern insbesondere mit Blinden zusammen. Von ihnen lässt er sich ihre Welt bis ins kleinste Detail zeigen und lässt Jenny Aaron nichts tun, was nicht tatsächlich möglich wäre. Unwahrscheinlich ist allerdings, dass sich all diese Eigenschaft in nur einer einzigen Person vereinen. Dennoch ist es erstaunlich, wozu Blinde fähig sind – mit seinen Büchern gewährt der Autor auch Sehenden Einblick in diese facettenreiche Dunkelheit.
Fazit: Andreas Pflüger ist einer der herausragendsten deutschen Thriller-Autoren und erzählt mit seinen Büchern Geschichten, die tief unter die Haut gehen. Nervenzerreißende Spannung, extrem viel Action und Gewalt gepaart mit Tiefsinn und Emotion, einzigartige Charaktere und eine Sprache, die sprachlos macht, lassen den Leser auch nach „Niemals“ auf eine weitere Fortsetzung hoffen. Zugleich stellt sich erneut die Frage, wie der Autor ein weiteres Mal an diese Leistung anknüpfen können soll. Es wird ihm bestimmt gelingen.
Cover © Suhrkamp
- Autor: Andreas Pflüger
- Titel: Niemals
- Teil/Band der Reihe: 2 von 2
- Verlag: Suhrkamp
- Erschienen: 10/2017
- Einband: Hardcover
- Seiten: 475
- ISBN: 978-3-518-42756-9
- Sonstige Informationen:
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Wertung: 15/15 Dinge, die Jenny Aaron mag