Andrea Ulmer – Überleben ist ein guter Anfang (Buch)


Andrea Ulmer - Überleben ist ein guter Anfang (Buch)Lebe jeden Tag so, als wäre es Dein letzter
Anja Möller leidet an Brustkrebs, die Metastasen haben bereits die Knochen erreicht. Unheilbar lautet die Diagnose. Als wären Schmerzen, Übelkeit und die Chemotherapien nicht schon schlimm genug, ist es vor allem der Blick ihres Ehemanns Robert, der Anja deprimiert. In alltäglichen Situationen schaut er sie mitleidig an und sagt „Das ist bestimmt gut gegen … Du weißt schon was“. Ist Krebs ein verbotenes Wort wie der Name Voldemort aus den „Harry Potter“-Romanen? Und muss sich das ganze Leben der Krankheit unterordnen?

Anja schließt sich einer Selbsthilfegruppe an, obwohl sie findet, dass der Begriff ein Widerspruch in sich ist. Überraschenderweise geht es dort heiter zu und die besprochenen Themen drehen sich nicht nur um die Krankheit. Wider Erwarten fühlt sich Anja wohl in der Gruppe, und besonders mit Sieglinde verbindet sie bald eine Freundschaft. Die 83-jährige pflanzt mit der Gruppe einen Baum und plant trotz ihrer Krebserkrankung im Endstadium eine Weltreise. Diese kann sie jedoch nicht mehr antreten und vermacht das dafür zurückgelegte Geld der Gruppe. Also machen sich Marion, Sabine, Hertha, Gret und Anja auf den Weg. Von Frankreich aus geht es in die USA, nach Peru, nach Australien, nach Indien und nach Ägypten. Jeder Ort hält für die Frauen sehr viel mehr bereit als ein passendes Souvenir für Sieglinde und eindrucksvolle Urlaubsbilder. Nämlich Aktivität, Spaß, Freundschaft und überraschende Einsichten.

Wer beschäftigt sich schon gern mit Krebs?

So ganz freiwillig tut das kaum jemand. Wer sich mit Krebs beschäftigt, ist zumeist entweder Krebs-Patient, ein Angehöriger oder Freund eines Erkrankten oder hat beruflich mit Krebs zu tun. Krebs verbinden wir mit Leiden und Tod. Kann also ein Buch, in dem die Protagonisten an Krebs leiden, heiter sein? Es kann, wie Andrea Ulmer in „Überleben ist ein guter Anfang“ eindrucksvoll unter Beweis stellt.

Meine erste literarische Begegnung mit dem Thema Krebs hatte ich mit dem Roman „Zwei Frauen“ von Diana Beate Hellmann. Im Mittelpunkt stehen die 18 jährige Eva, die Balletttänzerin werden will, und die austherapierte und zynische Claudia. Die beiden vollkommen unterschiedlichen Frauen finden auf der Krebsstation einander. Obwohl dieser Roman Leid und Schrecken der Krebserkrankung schonungslos schildert, stehen auch hier die Menschen im Mittelpunkt, die neben der Krankheit einen normalen Alltag leben. Die sich verlieben, hoffen und freuen.

Die Freude am Leben trotz der Krankheit zieht sich als roter Faden durch den Roman „Überleben ist ein guter Anfang“. Andrea Ulmer hat ihre Mutter während ihrer Krebserkrankung begleitet und viele Situationen so ähnlich erlebt, wie sie sie in ihrem Roman beschreibt. Auf ihrem Blog „Katastrophengebiet“ erzählt die Autorin von ihrer Mutter. Über deren Reise nach China und darüber was für ein lebensfroher Mensch sie bis zum Ende war.

„Überleben ist ein guter Anfang“ wird aus der Perspektive der Krebspatientin Anja Möller erzählt. Anja lebt in einem Dorf in der Pfalz, ist verheiratet und Mutter einer Tochter, die gerade ihr Studium angefangen hat. Sie ist Teil einer Gruppe von Mitbetroffenen, die der Krankheit zum Trotz eine Weltreise unternimmt. Der Roman lebt von der Unterschiedlichkeit der Frauen, davon wie sie sich verändern und immer ungezwungener mit ihrer Krankheit umgehen. Marion, die übervorsichtige Planerin, lässt sich schließlich zu spontanen Aktionen hinreißen. Gret, die naive und weltfremde Bäuerin, entwickelt ein Talent für Fremdsprachen und die internationale Küche. Sabine, die taffe Geschäftsfrau, gibt sich sozial. Und Anja, die ihren Haushalt so schlecht loslassen kann, überwindet ihre Kontrollsucht. Erlebnisse und Einsichten der Frauen beschreibt Andrea Ulmer tiefgreifend und nachvollziehbar. Leider tappt sie bei der Charakterisierung der anderen Protagonisten in einige langweilige Klischee-Fallen des typischen Frauen-Romans. Anjas Tochter Carolin studiert außerhalb ihres Heimatorts, hat aber weder kochen, noch waschen gelernt. Und Ehemann Robert verbindet der Leser in erster Linie mit dem überstrapazierten Socken-Klischee: Der roten Socke, die er zusammen mit der Weißwäsche wäscht, was ihn fortan zum Tragen rosafarbener Unterwäsche zwingt.

„Überleben ist ein guter Anfang“ ist trotzdem ein witziger Roman. Die Reisenden erleben schwierige Situationen, denen sie mit einer guten Portion Galgenhumor begegnen.

»Falls es nicht mehr geht, können wir uns den Rollstuhl teilen. Oder Marion leiht auch noch einen für Dich […]. Dann können wir eine Rollstuhl-Gang gründen. Wie eine Motorrad-Gang, nur gefährlicher.« [Pos. 2783]

Dazu kommen einige pfälzische Wortkreationen wie „nasweisich“ und Lebensweisheiten, die weder belehrend, noch überheblich herüber kommen. Sondern spontan und konkret aus dem Leben gegriffen sind. „Überleben ist ein guter Anfang“ ist nicht nur ein Roman über Frauen, die an Krebs leiden, sondern auch ein ungewöhnlicher Reiseroman. Denn es stehen nicht nur die üblichen Touristenattraktionen, sondern auch weniger bekannte und dafür umso interessantere Orte wie Saint-Martin-Lys oder Kodaikanal auf der Reiseroute. Es bedarf zwar einiger Anpassungen an die Reiseplanung, trotzdem traut sich die Gruppe Aktivitäten wie Wildwasser-Rafting, Canyon-Wandern und Schnorcheln im Great Barrier Reef zu. Anja, Hertha und Co zeigen, dass Krebspatienten ihr Leben mitnichten nur auf dem Krankenbett verbringen, sondern voller Energie und Mut über sich hinaus wachsen. Darin steckt das größte Geschenk dieses Romans an den Leser, eine positive und herausfordernde Sicht auf ein Leben, das nicht ewig währt. Weder bei Krebspatienten noch bei gesunden Menschen.

Ein mutiges und überzeugendes Belletristik-Debüt

Andrea Ulmer, die eigentlich Andrea Bottlinger heißt und bisher hauptsächlich Phantastik-Romane geschrieben hat, gelingt mit „Überleben ist ein guter Anfang“ ein überzeugendes Debüt im Belletristik-Fach. Der Roman nähert sich dem Thema Krebs auf eine unverkrampfte und humorvolle Weise, die trotzdem dem Leiden, dem Schmerz und der Trauer einen angemessenen Raum zugesteht. Trotz einiger Klischees liest sich der Roman weitestgehend kitschfrei und realistisch. Das Buch macht Mut, sich ohne die üblichen Vorbehalte mit Krankheiten und dem Sterben zu befassen und auch diesen Themen lebensbejahende Seiten abzugewinnen.

Cover © Ullstein Verlag

Wertung: 12/15 Reisesouvenirs

 


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