Es dürfte derzeit kaum einen Filmemacher geben, der sich konsequenter dem Menschen als Wolf des Menschen widmet als Ben Wheatly (bei Drehbüchern gemeinsam mit Lebensgefährtin Amy Jump). In “Kill List” wird traumatische Familienauflösung betrieben, ergänzt um alptraumhafte Unberechebarkeiten. “High Rise” betreibt den Kampf “derer von oben” gegen “die da unten” wortwörtlich vertikal in einem Hochhaus, bei “Free Fire” geht es in die Horizontale. In einem verlassenen und fast zerfallenen Fabrikgebäude stehen sich irische und amerikanische Gangster gegenüber. Erst als mögliche Geschäftspartner, dann als Kontrahenten. Zwischendurch taucht überraschend eine dritte Partei auf.
Wer in Anbetracht des Settings gleich ausruft: “Tarantino, Tarantino, figaro magnifico” und “Reservoir Dogs” an der Leine hat, liegt nicht ganz falsch, aber die Leine ist eine ganz lange. Bei Wheatly geht es ähnlich brutal zu, doch bis das Blut die gesamten Klamotten durchnässt hat, dauert es eine Weile. Wheatlys Gangster schießen schlecht und treffen trotzdem. Obwohl der Ton einer sarkastischen Komödie fast nie verlorengeht, schmerzen die Wunden, das Robben durch den Staub, Unrat und gebrauchte Heroinspritzen fast körperlich. Dafür braucht es nicht fassweise roten Lebenssaft, auch kleinere Verletzungen tun weh. Zerfetzte Markenanzüge auf andere Weise ebenso.
Aber wie das ehemalige Wunderkind Vernon weiß, sind Keime ebenfalls nicht zu unterschätzen. Die redegewandten Gauner können besser mit Worten umgehen als mit Waffen. Ziemlich schnell spricht sich herum, das man bei den erlittenen Einschüssen anderthalb Stunden Zeit hat, bis man im Krankenhaus sein muss, sonst ist der Blutzoll zu hoch und das Ende nah. Gevatter Tod auf Beutefang. Der Zeitrahmen wird nicht überschritten. “Free Fire” bleibt eher darunter, denn der Weg zum Krankenhaus ist weit.
Wie alles begann: Die beiden Iren Chris und Frank treffen sich mit dem smarten Vernon (er hält sich jedenfalls dafür) und seinem Partner Martin, um Waffen zu kaufen. Vermittelt hat das Geschäft die junge, toughe Justine, deren Rolle im anschließenden Gefecht eine unbestimmte sein wird. Leider handelt es sich bei den Waffen nicht um die bestellten M-16-Schnellfeuergewehre sondern um AR-70s, eine andere Marke. Die Stimmung erhitzt sich, die ersten verbalen Schlagabtäusche finden statt, es dauert bis eine Einigung zustande kommt. Dann erkennt Harry, einer der Laufburschen Vernons in Stevo, dem Fahrer der irischen Käufer, seinen Kontrahenten bei einer Kneipenschlägerei am Abend zuvor. Angeblich hat Stevo Harrys Cousine mit einer Flasche K.O. geschlagen. Stevo bestreitet dies, lässt sich jedoch von seinen Begleitern handgreiflich zu einer Entschuldigung überreden. Die sich zur despektierlichen Beleidigung Harrys wandelt. Der erste Schuss fällt. Viele weitere werden folgen.
Denn unsere Protagonisten sind mäßig begabte Schützen. Selbst die Trefferquote des smarten Ord, der eigentlich den reibungslosen Ablauf überwachen sollte, ist ziemlich niedrig. Es dauert eine ganze Weile bis sich unsere Kombattanten soweit dezimiert haben, bis nur noch… seht selbst.
“Free Fire” ist ein aufs Skelett reduzierter Gangsterfilm. Der zugrundeliegende Plot ist so simpel wie effektiv. Kleine Fehler, Misstrauen, nur zum Teil berechtigt, und überkochende Emotionen führen zu einem Schlagabtausch, der ausschließlich Opfer kennt. Dabei gelingt Ben Wheatly der Spagat zwischen urkomischen, absurden und in ihrer bitteren Konsequenz tragischen Szenen. Denn irgendwie wachsen einem die mit Marotten behafteten Charaktere ans Herz. Obwohl sich kaum eingängige Sympathieträger darunter befinden. Richtig hassenswerte allerdings auch nicht.
Am besten weg kommen der mitfühlende Chris, der coole Ord, der zunächst fast die Rolle eines kommentierenden Zuschauers einnimmt und der besonnene Martin, der es hasst von Vernon “mein Schwarzer” genannt zu werden. Eine Sonderrolle nimmt Justine, die einzige Frau der unglückseligen Begegnung ein, die so charmant wie ambivalent gezeigt wird. Und die vor herumirrenden Kugeln ebenfalls nicht gefeit ist.
Die schauspielerischen Leistungen sind durch die Bank klasse, modisch und musikalisch werden die Siebziger treffend eingefangen. Ausgerechnet John Denver tragende Szenen untermalen und konterkarieren zu lassen, zeugt von Sachverstand. Und Mut. Der gesamte Soundtrack, egal ob historische oder neue Kompositionen, ist äußerst stimmig.
“Free Fire” ist ein kleines, finsteres Monument der Dekonstruktion, die verfeindeten Parteien zerlegen sich mit Worten und Waffen, Komik speist sich oft aus Unverständnis und Überforderung, phasenweise verirren sich die Charaktere in der Unübersichtlichkeit der sich ständig ändernden Situationen und Formationen. Dabei werden die handelnden Akteure nicht der Lächerlichkeit preisgegeben, ihr blutiges vor sich hin Sterben schmerzt. Es gibt keine Gangster, die zu Mythen werden können, keine Heroen, die dem Staub hervorsteigen wie Phoenix aus der Asche.
Passend dazu finden gerne verwendete Topoi wie Verfolgungsjagden im Kriechgang statt, nervenzerrende Langsamkeit statt eines rauschhaften Schnittgewitters. Konsequent in seiner Gestaltung bis zum bitteren Ende, man könnte fast meinen mitleidlos, wenn die Figuren nicht mit so viel Empathie gezeichnet würden. Selbst wenn man davon ausgeht, dass es sich eher um Rollenmodelle als ausgefeilte Charaktere handelt. Ben Wheatly und sein Team bewältigen das mit sicherer Hand. Wie die gesamte Logistik und Choreographie, deren Abläufe aus Wort- und Feuergefechten, staubaufwirbelnden Schusseffekten und Bewegungen im Raum hervorragend austariert wirken. Dabei wird auf überflüssige und aufgesetzte CGI-Effekthascherei verzichtet.
“Free Fire” ist eine bitterböse, schwarze Gangstermär, die Action, Komik und Tragik trefflich vereint und dabei hochunterhaltsam ist. Ausnahmsweise ist die Altersfreigabe in den USA höher angesetzt als hierzulande. Liegt nicht nur an der expliziten Gewaltdarstellung. Amüsant nachzulesen bei Wikipedia:
“In den USA erhielt der Film von der MPAA wegen heftiger Gewaltszenen, einer derben Ausdrucksweise, sexueller Anspielungen und gezeigtem Drogenkonsum ein R-Rating, was einer Freigabe ab 17 Jahren entspricht. In Deutschland ist der Film FSK 16. […]: “Der in den 1970er Jahren angesiedelte Film ist als Action-Kammerspiel inszeniert und von einer teils ins Groteske reichenden Gewaltspirale bestimmt. […] 16-jährige sind […] in der Lage, sich ausreichend zu distanzieren, da sie auf der Basis ihrer Medienerfahrung die Künstlichkeit und Überzeichnungen des Films entschlüsseln können. Da die Gewalt nicht als nachahmenswert dargestellt ist und die Protagonisten sich kaum als Identifikationsfiguren eignen, kann diese Altersgruppe Thematik und Stil des Films eigenständig bewerten, ohne dass das Risiko einer Ängstigung oder Desorientierung besteht.”
Die Desorientioerten befinden sich diesmal auf der anderen Seite der Leinwand (des Bildschirms):
Fotos © Splendid Film
- Titel: Free Fire
- Originaltitel: Free Fire
- Produktionsland und -jahr: USA, 2016
- Genre:
Action, Komödie, Gangsterfilm
- Erschienen: 25.08.2017
- Label: Splendid Film
- Spielzeit:
88 Minuten auf 1 DVD
91 Minuten auf 1 Blu-Ray - Darsteller:
Cilian Murphy
Alison Brie
Armie Hammer
Sharlto Copley
Sam Riley
Michael Smiley
Enzo Clienti
Baboo Ceesay
Noah Taylor
Jack Reynor
- Regie: Bean Wheatly
- Drehbuch: Ben Wheatly, Ava Jump
- Produktion: Martin Scorsese
- Kamera: Laurie Rose
- Musik: Geoff Barrow, Ben Salisbury
- Extras:
Making of
B-Roll
Interviews mit Cast & Crew
Original Kinotrailer
Trailershow
- Technische Details (DVD)
Video: 16×9
Sprachen/Ton: D, E, Dolby Digital 5.1
Untertitel: D, NL
- Technische Details (Blu-Ray)
Video: 16×9
Sprachen/Ton: D, E, DTS-HD 5.1
Untertitel: D, NL
- FSK: 16
- Sonstige Informationen:
Produktseite
Erwerbungsmöglichkeit
Wertung: 12/15 Shootouts