Die Literatur, die Großstadt – das gehört zusammen, und zwar nicht erst seit Fotos von Buch und Kaffeekunst zu den beliebtesten Motiven auf Instagram gehören: Eine Geschichte aus der Weltstadt, von ihren Menschen und Büchern.
Es ist Herbst: Zeit für Kürbisse, Morgennebel und „Der Herr der Ringe“. Irgendwo im schottischen Hochland einen Monat vor der Bundestagswahl lese ich Galadriels Worte: „Zusammen haben wir Zeitalter der Welt hindurch gegen die lange Niederlage gekämpft.“
Einen Monat später schickt sich mit der AfD zum ersten Mal seit dem Ende des zweiten Weltkriegs eine rechtsextreme Partei an, in das deutsche Parlament einzuziehen. Nach unzähligen No-Pegida-Demonstrationen in der Kulturstadt und einem erschöpften Ausweichen ins Kosmopolitische komme ich nicht umhin, mich zu fragen: Kämpfen auch wir eine lange Niederlage?
Nun ist die direkte Übertragung von Zitaten aus Büchern ins Leben (das zeigt unter anderem der an Fahrlässigkeit grenzende Umgang mit biblischen Texten) kein ungefährliches Geschäft: Sie widerspricht nicht nur allen Regeln der Literaturwissenschaft, sondern in diesem Fall auch den Absichten des Autors.
J. R. R. Tolkien war durchaus negativ verwundert, als mit zunehmender Verbreitung seines bekanntesten Werkes immer häufiger der Aufstieg Mordors mit jenem des Dritten Reiches und der Ring der Macht mit der Atombombe gleichgesetzt wurde. Beides war inhaltlich schlicht falsch, und so gelangte seine Forderung, dass „Der Herr der Ringe“ nicht als Analogie gelesen werden möge, sogar ins Vorwort der verschiedenen Ausgaben.
Er selbst bevorzugte den Terminus der Anwendbarkeit, deren Ursprung nicht in der oberlehrerhaften Absicht des Autors sondern in der Rezeption selbst begründet lag. Obgleich auch sie sich aus dem grundsätzlichen Gehalt des literarischen Werkes speiste, lag der resultierende Erkenntnisgewinn doch in den verschiedenen Leser*innen und neuen Rezeptionsgenerationen selbst und verbot jede Form von Vereinfachung.
Und heute? Die Welt ist im Wandel: Ein narzisstischer Rüpel ist Präsident der USA und beschwört mit seinem nordkoreanischen Seelenfreund den Schrecken des Atomkriegs neu. Die Nordhalbkugel wird – auch das war schon einmal da – vom Gespenst des Nationalismus‘ erfasst, während Teile der Südhalbkugel aufbrechen, um sich ihr zustehendes Stück vom globalen Kuchen abzuholen. Die Polkappen verflüssigen sich langsam, aber sicher, und auch wenn manche die Augen vor den Ursachen verschließen wollen, sind die Folgen unausweichlich (übrigens auch da, wo man noch keine nassen Füße bekommt). Die religiösen und weltanschaulichen Extreme erleben weltweiten Zulauf, während die liberalen Kräfte schreckensstarr sind und keine gemeinsame Linie finden. Braucht es da wirklich noch ein Mordor? Brauchen wir den einen Ring, um zu erkennen, wie gefährlich wir am Abgrund wandeln?
Wohl kaum, aber wie ich hier vor fast einem Jahr schrieb, glaube ich an die aufklärerische und zivilisierende Wirkung von Büchern, vor allem die fiktionalen und fantastischen, auch wenn manche jetzt mit dem Eskapismus-Fähnlein um die Ecke kommen. Es kommt nur auf die Anwendung an.
In Tolkiens Welt sind die Elben das älteste Volk Mittelerdes, das ebenso „viele Niederlagen und viele furchtlose Siege“ gesehen“ und erlitten hat. Am Ende des dritten Zeitalters – also jenem Moment, als Frodo zum Schicksalsberg aufbricht – wissen sie, dass ihre Zeit in Mittelerde zu Ende geht, dass all das Gute und Schöne, das sie geschaffen haben, mit ihnen schwindet.
Darüber könnten sie verzweifeln, ihre Schiffe besteigen und der Welt den Rücken kehren. Sie könnten auch schwinden und zu albernen kleinen Waldgeistern werden, lachen und spotten, bis auch die letzte Gelegenheit auf Rettung verstrichen ist. Was sie übrigens nicht können, ist Fremde und Hilfesuchende an ihren Grenzen abweisen und die anderen Völker für deren Not verachten und hassen.
Der Katholik und Weltkriegsveteran Tolkien hat bekanntermaßen eine andere Geschichte erzählt: Mit ihrer verbleibenden Kraft erheben sich die Elben gegen den aufziehenden Schatten und tun alles, um Frodo zu helfen – was bemerkenswert ist, da die Vernichtung des Herrscherringes auch das Ende der Elbenreiche Mittelerdes bedeutet.
In dieser Haltung, die lange Niederlage auszufechten, steckt eine Menge vorchristlicher Held*innenmut, aber auch Hoffnung und – vielleicht etwas verstaubt, aber darum nicht unwahr – Anstand.
Wenn wir am Sonntag den 19. Deutschen Bundestag wählen, tun wir womöglich gut daran, uns der einen oder anderen elbischen Tugend zu erinnern.
Im ersten Schritt ist es simpler Anstand, überhaupt wählen zu gehen, nicht weil „man das so macht“, sondern weil wir erstens – im Gegensatz zu vielen anderen Menschen – das Privileg freier und geheimer Wahlen haben und zweitens Verantwortung für uns und unsere Mitmenschen. Das Geringste, das wir tun können, ist beides zu nutzen.
Wenn wir wählen, tun wir gut daran, das mit Herz und Verstand zu tun: Lest Wahlprogramme, fragt eure Abgeordneten, schreibt Mails und nehmt Einfluss! Wählt im Sinne der Fragen, auf deren positive Beantwortung ihr hofft, und nicht der Ängste, die die Rattenfänger*innen verbreiten.
Und die lange Niederlage? Noch sind die Menschenfeind*innen nicht Mordor und umso freier können wir uns ihnen entgegenstellen mit allem Guten, Wahren und Schönen, was uns zu Gebote steht – ob auf der Straße oder im Parlament.