«Bei Sonnenschein kann man Sachen schaffen, die man im Regen niemals zustande bringen würde.»
Sonnenschein gibt es in Leons jungem Leben leider nur selten. Er ist fast neun Jahre alt, als sein Bruder im Jahr 1980 geboren wird – sein Halbbruder, um genau zu sein. Während Leons Haut die Farbe von Milchkaffee hat, ist sein Bruder weiß. Er selbst hat braune Augen und schwarze Haare, Jake ist blond und blauäugig. Aber all das ist unwichtig für Leon, denn Jake bedeutet ihm alles. Seine Mutter Carol ist ein Wrack. Ein hübsches zwar, aber dennoch ein Wrack, das sich nicht um die Jungs kümmern kann. Also übernimmt Leon alle Aufgaben: Er wickelt und füttert Jake, wiegt ihn in den Schlaf und weiß genau, was er tun muss, wenn der Kleine weint. Auch für seine Mutter sorgt er, so gut er kann. Natürlich bleibt es nicht aus, dass das Sozialamt Wind von der Situation bekommt. Und so geschieht das Unausweichliche: Das weiße Baby findet im Nu Adoptiveltern, während Leon bei einer Pflegestelle unterkommt.
Pflegemutter Maureen tut alles, um es Leon ein bisschen leichter zu machen. Aber er vermisst seinen Bruder, er ist sich sicher, dass nur er allein Jake glücklich machen kann und er versteht nicht, warum die beiden getrennt wurden. Als Maureen krank wird, nimmt ihre Schwester Sylvia Leon auf und wieder beginnt eine neue Etappe für ihn. Beim Fahrradfahren entdeckt er eine Schrebergartenanlage, in der er zwei ganz unterschiedliche Freunde findet. Doch Jake vergisst er trotzdem nicht und sein großes Ziel ist es, eines Tages wieder mit seinem Bruder vereint zu sein.
Im Buchumschlag wird der Autor Chris Cleave zitiert: « […] Am Ende der Geschichte konnte ich das Buch kaum zuklappen, weil es sich anfühlte, als würde ich Leon alleinlassen. […]» – und genauso ist es. Während des Lesens möchte man den Kleinen an der Hand nehmen, ihn knuddeln und ihm sagen, dass alles gut wird. Man möchte einen Weg finden, ihn glücklich zu machen und ihn seine Sorgen vergessen zu lassen. Am Ende kann man sich schließlich nur schwer von ihm trennen und würde ihn gerne weiter begleiten. Dass Leon dem Leser so sehr ans Herz wächst, liegt sicher nicht zuletzt an dem auktorialen Erzähler, der uns die Geschichte aus Leons Sicht erleben lässt. Aus der Sicht eines Neunjährigen, der zwar schon viel zu erwachsen für sein Alter, aber eben auch noch ein bisschen naiv ist. Kit de Waal hat Leons Perspektive wunderbar glaubwürdig und authentisch umgesetzt. Gerade weil man das Gefühl hat, tatsächlich die Worte eines Kindes zu lesen, gehen die Erlebnisse des Jungen so sehr ans Herz.
Die Charaktere, die Leon auf seinem Weg begegnen, sind ebenfalls sehr überzeugend gestaltet. Da ist zum Beispiel die warmherzige Maureen, die schon seit Jahrzehnten in ihrer Rolle als Pflegemutter aufgeht und die Leon ganz besonders liebgewonnen hat. Oder ihre Schwester Slyvia, die ein wenig verschroben und eigensinnig wirkt, sich aber während Maureens Krankheit ohne zu zögern um den Jungen kümmert. Auch seine Freunde aus dem Schrebergarten sind ebenso spezielle wie authentische Typen: der alte, grummelige Mr. Devlin und der Farbige Tufty, der ein wenig zu einer Art Vaterfigur für Leon wird. Die beiden Männer können sich zunächst nicht ausstehen und streiten, sobald sie sich sehen, nähern sich durch den Neunjährigen aber immer mehr an.
Die Autorin arbeitete selbst in der Familienhilfe und hat sicherlich bereits zahlreiche Fälle wie Leons erlebt. Zwischen den Zeilen schwingt mit, dass die Sozialarbeiter sich der Ungerechtigkeit, die Brüder zu trennen, bewusst sind, sie aber letztendlich nur versuchen, für alle das Beste zu erreichen. Kit de Waal schafft es, trotz Leons – absolut nachvollziehbarem – Unverständnis für die Situation die Zerrissenheit der Sozialarbeiter zu transportieren. Sie haben sich die Entscheidung nicht leicht gemacht und es tut ihnen in der Seele weh, Leon so unglücklich zu sehen. Zugleich wollen sie Jake die Chancen bieten, die ihm offenstehen. Auch für den Leser ist das nur schwer zu verdauen, aber man versteht die Beweggründe. Hier ist es de Waal hervorragend gelungen, ihre fachlichen Erfahrungen auf einfache Weise – schließlich erfahren wir die Hintergründe aus der Sicht eines Kindes – einzubringen.
Leon ist für sein Alter sehr reflektiert. Aber auch das ist nachvollziehbar, bedenkt man, wie früh er erwachsen werden musste. Ihm ist beispielsweise vollkommen bewusst, dass Jake ihn vergessen wird, weil er einfach noch zu klein war, um sich an ihn zu erinnern, als die beiden getrennt wurden. Er weiß, dass seine Mutter sich nicht um ihn und seinen Bruder kümmern kann. Trotzdem möchte er am liebsten zu ihr zurück – und wie früher derjenige sein, der für sie und das Baby sorgt. Er fasst den Plan, seine Familie wieder zusammenzuführen und geht dabei erstaunlich besonnen vor. Und doch merkt man letztlich immer wieder, dass er ein kleiner Junge ist, der Liebe und Fürsorge braucht.
Auch wenn Leon selbst nicht an Sonnenschein in seinem Leben glaubt, sieht man als Leser all die Menschen, die zwar selbstverständlich seinen Bruder nicht ersetzen können, die aber in der schweren Zeit für Leon da sind und sich rührend um ihn kümmern. Das beruhigt und macht es letztendlich ein wenig leichter das Buch zuzuschlagen und den tapferen Jungen zurück zu lassen.
Fazit: „Mein Name ist Leon“ ist ein rührendes Buch mit einem wundervollen neunjährigen Helden, den man sofort ins Herz schließt. Den Kleinen zu begleiten ist schön und traurig, herzerwärmend und herzzerreißend. Da die Geschichte aus seiner Sicht erzählt wird, hat man das Gefühl, tatsächlich an seiner Seite zu stehen und das Geschehen mit seinen Augen zu verfolgen, die Ungerechtigkeit selbst zu spüren und gemeinsam mit ihm Pläne zu schmieden. Am Ende bleibt die Hoffnung, dass Leon sein Glück findet und er die Möglichkeit bekommt, einfach nur ein unbeschwertes Kind zu sein.
Cover © Rowohlt Polaris
- Autor: Kit de Waal
- Titel: Mein Name ist Leon
- Originaltitel: My Name is Leon
- Übersetzer: Katharina Naumann
- Verlag: Rowohlt Polaris
- Erschienen: 05/2017
- Einband: Taschenbuch
- Seiten: 320
- ISBN: 978-3-499271-17-5
- Sonstige Informationen:
Produktseite
Erwerbsmöglichkeiten
Wertung: 12/15 Action-Man-Figuren