An einem Dienstagmorgen beendete ich die Urlaubslektüre (bevor der Urlaub überhaupt begann) und dachte über den Unterschied von „unmöglich“ und „undenkbar“ nach: „Nach uns die Pinguine“.
Joshua Feldenkrais ist Jude, Mormone, schwul und Radiomoderator auf den Falklandinseln – der letzten Bastion des britischen Empire und einer der letzten der Menschheit überhaupt, nachdem es dieser gelungen ist, sind mit Hilfe atomarer Sprengköpfe und biologischer Waffen fast vollständig auszurotten. Am Rande der Scheibe (kurz vor dem Südpol) nimmt man davon gerade nur bedingt Notiz, schließlich wurde der allseits beliebte Gouverneur der Inseln erschlagen.
„Nach uns die Pinguine“ ist zweierlei: Vordergründig ist Hannes Steins Weltuntergangskrimi ein klassisches Whodunit: Das geschätzte Oberhaupt einer kleinen Gemeinde wird ermordet. Über zwei, drei Finten und Fehlannahmen gelangt der neugierige Reporter auf die Spur des Mörders und stößt auf ein von langer Hand geplantes Komplott. Wie in einem Agatha-Christie-Buch oder einer Folge von „Inspector Barnaby“ werden verschiedene Figuren und Verdächtige der Reihe nach vorgestellt und auf mögliche Motive abgeklopft. Natürlich gibt es auch einen mysteriösen Anrufer, der Informationen zum Fall hat, sich bei Ankunft des Journalisten allerdings als tot erweist.
Lokalkolorit und Country-Idyll fehlen auch nach dem Untergang des Empires (und der übrigen Welt) nicht: Ingwerkekse, Whisky, Land Rover, Wetter und Landschaft, dazu brave Bürger*innen mit liebenswerten Macken. Das ist alles herrlich britisch, oder doch wenigstens so britisch, wie man es sich vorstellt: Ständig trinkt irgendwer Tee mit Milch oder sitzt auf geblümten Polstermöbeln. »Böse Zungen behaupten, die letzte Delegation, die auf [der Couchgarnitur] Platz genommen habe, sei so tief in den Kissen versunken, dass sie noch immer nicht zum Vorschein gekommen ist.« (S. 18)
Auf der zweiten Ebene kommt der Weltuntergang ins Spiel, und der ist (gerade darum?) philosophisch aber auch emotional spannender: In losen Abständen unterbricht Stein den Krimi und erzählt die Lebensgeschichte Joshuas und wie es zu den unerfreulichen Ereignissen kam: »Es war ein paar Wochen, nachdem die Republikaner einen Wahlsieg von grauenhaften Dimensionen errungen hatten und ein böser, alter Analphabet mit blondem Haar ins Weiße Haus eingezogen war, von dem tout le monde wusste, dass er den Planeten ruinieren würde.« (S. 40)
Hannes Stein sagte im Interview mit den Salonkolumnisten, dass er das Buch beendete, bevor Trump Präsident wurde. Seitdem sei ihm das Spotten (fast) vergangen und tatsächlich liest sich „Nach uns die Pinguine“ wie eine düstere und leider nicht so unwahrscheinliche Prophezeiung. Immerhin befindet er sich mit diesem Problem in der erhabenen Gesellschaft: Auch Charlie Chaplin sagte, dass er den “Große[n] Diktator“ nicht hätte erschaffen können, hätte er um die Gräuel in den Konzentrationslagern gewusst.
Auch Stein beweist – im Unwissen – Humor und einen Sinn für angewandte Poetik, etwa wenn er den deus ex machina, der die Geschichte gegen alle Wahrscheinlichkeit zum Guten wendet, bereits in der Mitte des Buches ankündigt: »Wir wollen Romane, in denen das Glück auf den letzten Seiten mit wehendem Banner über die Regeln der grässlichen Wahrscheinlichkeit triumphiert. Natürlich ist das Eskapismus – bitte, was denn sonst?« (S. 106)
Die ganze Szene ist so wunderbar absurd, dass beim Lesen schon mal laut aufgelacht wird, während sich ein Freudentränchen aus den Augenwinkeln schleicht. Warum? Weil „Nach uns die Pinguine“ nicht nur die völlige Sinn- und vor allem Grundlosigkeit des Weltuntergangs zeigt, sondern ihm auch jene menschlichen Qualitäten und Werke entgegensetzt, die gut, wahr und schön sind.
Die Erinnerungen Joshuas spielen die traurig resignierte Grundmelodie des gesamten Buches: »Bleiben werden die Tierstimmen: Möwenschreie im Himmel, das sanfte ‘Bäh’ der Lämmer, das Quäken der Pinguine. Und das Geräusch, das der Wind in den Stromdrähten macht. Das Rauschen der Brandung, wenn das Meerwasser an die Felsen klatscht. Der Sternenhimmel wird bleiben und die Sonnenuntergänge. Vergilbende Bücher in den Bibliotheken der Welt und Bilder an Wänden, die kein Auge mehr sieht: Vermeer, Rembrandt, Picasso, Goya.« (S. 157)
Im Bewusstsein für die schönen Dinge im Leben und natürlich für die Liebe Joshuas zu seinem Freund entsteht die emotionale Spannung, die sich in rettenden Moment lachend und weinend entlädt. Stein hat eine hochwirksame Manipulation geschrieben, die zumindest den Wunsch weckt, an das Gute (wenn auch nicht das Kluge) in den Menschen glauben zu wollen.
So wird der Weltuntergang eine Frage der Einstellung: »Am Rande des Abgrunds kommt es vor allem auf Haltung an« (S. 159) Beinahe im Ton Oscar Wildes enthüllt Stein diese Wahrheit mit Augenzwinkern – hinter Tee, Ingwerkeksen, Bobbys und den Portraits von Queen Elisabeth II.: »[W]elcher Mensch kommt schon ohne Illusionen durchs Leben? Wer am Ende aller Selbsttäuschungen angekommen ist […] nimmt den Strick und hängt sich auf. Was aber wohl ein illusionsloser Mensch täte, der die Charakterstärke hätte, sich nicht auf der Stelle umzubringen? Und ist ein solches Monstrum überhaupt vorstellbar?« (S. 106)
Fazit: Das Wahre, Gute und Schöne ist keine Frage der Wirklichkeit, sondern der Illusion. Falls aber die Welt doch untergehen sollte, ist der Gedanke tröstlich, dass zumindest ein menschlicher Geist sich einen höchst unterhaltsamen Ausgang dieses Debakels erdachte.
Cover © Verlag Galiani Berlin
- Autor: Hannes Stein
- Titel: Titel des Buchs
- Verlag: Verlag Galiani Berlin
- Erschienen: 08/2017
- Einband: Hardcover mit Schutzumschlag
- Seiten: 207
- ISBN: 978-3-86971-156-0
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Wertung: 13/15 Pinguine