Manchmal möchte man Leute zum Mond schießen, besonders Politiker*innen. So lange man allerdings nicht bei der NASA oder dem DLF arbeitet, bietet sich einem dazu wenig Gelegenheit. Literaturmenschen haben da einen Vorteil: Sie können das tun. Dank ihrer Vorstellungskraft. Oder dank klugen Texten, die dazu noch spannende Geschichten erzählen. Daniel Defoe hat einen solchen Mondroman geschrieben – mit nur einem Problem: Es ist kaum ein Roman, und noch weniger eine Geschichte. Der 1705 veröffentliche Text ist eher ein politischer Essay, obwohl man einen Roman hätte erwarten können. Immerhin gehört Daniel Defoes Robinson Crusoe zu den historischen Grundsteinen des Englischen Romans. Sollte Der Konsolidator oder Erinnerungen an mannigfache Begegnungen mit der Welt des Mondes ein ähnlicher Grundstein der Science Fiction sein – nur eben, ohne eine Erzählung zu bieten?
Obwohl Der Konsolidator zweifellos als ganz frühes Dokument der Science Fiction herhalten darf, hat er Vorläufer: Johannes Kepler veröffentlichte 1634 ein Buch über mögliche Beschaffenheiten des Mondes oder der Wege dorthin. Einer dieser Wege schließt Drogenkonsum ein, damit man ruhiggestellt den Weg zum Mond vollbringen kann. Die titelgebende Maschine Defoes, der Konsolidator, scheint davon zumindest inspiriert worden zu sein:
«Von all seinen Erfindungen, mit denen sich die Reise [zum Mond, T.K.] bewerkstelligen lässt, sah ich keine Bessere oder Profitablere als eine gewisse Maschine in Form einer Kutsche auf dem Rücken zweier enormer Körper mit ausgebreiteten Schwingen, einer Spannweite von gut fünfzig Metern und aus so eng gesteckten Federn bestehend, dass keinerlei Luft hindurch gelangen kann; […] die Passagiere dieser Kutsche nehmen ein gewisses einschläferndes Gebräu zu sich, das sie in einen sanften Schlummer versetzt und ihnen süße Träume beschert, sodass sie nimmer erwachen, bis das Ende der Reise gekommen ist.» (S. 37f)
Doch statt um technische Mittel, um zum Mond zu kommen und dort zu überleben, geht es auf Defoes Mond (anders als bei Kepler) um politische Strukturen. So stammen die Federn des – noch nicht so genannten – Raumschiffes von einem seltsamen Vogel mit dem Namen ‘Kollektiv’. Daran zeigt sich gleich die schöne Möglichkeit, auch noch die kleinste Beschreibung aus dem Text auf unsere heutige politische Lage zu beziehen: Die seltsamen Kollektive, die uns regieren, werfen die merkwürdigsten Federn ab (mit denen man heute allerdings nur noch selten schreibt) und kranken daran, nicht darstellbar zu sein: Will man eine politische Partei, ein Kollektiv, mit einem Wort, oder auch nur einem Programm identifizieren, «so wäre die Schilderung derart romantisch, dass sie die Glaubwürdigkeit all jener authentischen Darstellungen zerstören würde, die noch folgen sollen.» (42) – könnte man Defoe ergänzen lassen.
Die Allegorisierung führt aber leider auch dazu, dass sich Der Konsolidator sehr schwierig liest. Die Sätze sind kompliziert, lang und derartig abstrakt, dass es sich auch um eine historische Beschreibung aller politischen Lager Englands um 1700 handeln könnte. Diese wäre wahrscheinlich akkurater als die meisten echten Geschichtswerke – was sie wahrscheinlich auch ist, wenn man nur die fiktiven Nationen, Religionen und Politiker*innen des Mondes in ihre europäischen Pendants übersetzt. Die Übersetzung ist dabei der springende Punkt: Joachim Körber hat mit unglaublicher Präzision übersetzt, die auf der anderen Seite aber eben auch die Schwere des Buches ausmacht. Denkt man sich einige Druckfehler weg, dann eignet sich Der Konsolidator vor allem für die wissenschaftliche Arbeit, eine Genusslektüre ist vielleicht nur dann möglich, wenn man sich auf dem intellektuellen Niveau Arno Schmidts oder Stefanie Sargnagels bewegt (griesgrämig, aber genial).
Wenn man das Buch liest, dann erfährt man sehr viel über die frühesten Züge der Globalisierung, über Probleme bei politischen Aushandlungen, über die Absurdität diplomatischer Logiken. Und man schult sein eigenes Gehirn, Rückbezüge über einige Seiten hinweg im Gedächtnis zu behalten und die wahnwitzig verschachtelte Satzstruktur zu ihrem Ausgangspunkt zurückzuverfolgen. Wer gewillt ist, diese Arbeit auf sich zu nehmen, wird sicherlich auch einen Blick in die englische Ausgabe werfen, die schnell auf archive.org verfügbar ist. Für alle, die politikhistorisch und literarhistorisch interessiert sind, aber das Englische nicht beherrschen, ist die Herausgabe der Übersetzung in der Klassiker-Bibliothek der Edition Phantasia eine Wohltat. In welcher Sprache auch immer man das Buch aber liest, einen Vorzug hat es immer: Nach dem Lesen will man die Politiker*innen nicht mehr auf den Mond schießen; man selbst begibt sich nach oben. Es ist nämlich gar nicht so schlecht dort.
Cover © Edition Phantasia
- Autor: Daniel Defoe
- Titel: Daniel Defoe – Der Konsolidator oder Erinnerungen an mannigfache Begegnungen mit der Welt des Mondes
- Teil/Band der Reihe: Klassiker-Bibliothek, Band 2
- Originaltitel: The Consolidator or Memoirs of Sundry Transactions From the World in the Moon
- Übersetzer: Joachim Körber
- Verlag: Edition Phantasia
- Erschienen: 06/2016
- Einband: Hardcover
- Seiten: 284
- ISBN: 978-3-924959-93-7
- Sonstige Informationen:
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