Die Rückkehr des verlorenen Sohns, Standard in der Kategorie „romantisch-verkitschtes Hollywood-Drama“. Leider verrät der deutsche Untertitel „Der lange Weg nach Hause“ dieser Prämisse folgend bereits, worum es im knapp zweistündigen „Lion“ gehen und wie berechenbar die Handlung sein wird. Umso mehr verwundert es da, dass der Film nicht auf einem 08/15-Drehbuch, sondern auf einer wahren Geschichte basiert, die auf den ersten Blick geradezu nach einer Verfilmung schreit. Doch leider wird ebendiese dem bewegenden Schicksal von Saroo Brierley nicht gerecht, was die dringliche Frage aufwirft, an welchen Stellen das Medium Film an seine Grenzen stößt und ob denn wirklich alles für die Leinwand verwurstet werden muss. Oder ist doch Hollywood wieder an allem schuld?
Regisseur Garth Davis („Top Of The Lake“) und Hauptdarsteller Dev Patel sind zwar noch recht unbeschriebene Blätter, die Namen Weinstein, Kidman und Mara lassen jedoch keinen Zweifel daran, dass Brierleys Bestseller „A Long Way Home“ für ein Millionenpublikum nutzbar gemacht werden sollte. Verständlich, hat der Autor doch eine außerhalb des Kinos eigentlich unvorstellbare Odyssee mit Happy End hinter sich. Mitte der 1980er-Jahre lebt der fünfjährige Saroo mit seiner Mutter, seinem älteren Bruder Guddu und seiner jüngeren Schwester in einem indischen Dorf. Die beiden Jungs unterstützen den Haushalt auf mal mehr, mal weniger legale Weise, wobei sich auch der kleine Saroo durch seine Cleverness als hilfreich erweist. Eines Abends überredet er seinen Bruder, ihn zur Nachtarbeit mitzunehmen, schläft auf dem Weg aber immer wieder ein. Guddu ist mit der Situation überfordert und lässt seinen Bruder schlafend auf einer Bank zurück.
Als dieser aufwacht, sucht er in einem leeren Zug nach seinem Bruder, schläft dort aber ein weiteres Mal ein und erwacht erst wieder, als der Zug schon Stunden gefahren sein muss. Saroo gelingt es erst vierzehn Stunden später in Kalkutta aus dem verschlossenen Abteil zu steigen und findet sich in einer völlig fremden Welt wieder. Er kann sich in der überfüllten Metropole nicht verständigen, weil er Hindi und nicht Bengali spricht, wird zunächst aber als eines von Tausenden obdachlosen Kindern der Stadt übersehen. Es beginnt eine durchaus ansprechend und authentisch, dennoch manchmal zu magisch inszenierte Reise durch die dreckigen Seiten der Stadt, den Slums und Hochhäusern, in denen er auf Solidarität, aber auch auf zwielichtige Persönlichkeiten trifft. Egal, ob ihn sein „Nadel im Heuhaufen“-Dasein in seinem Überlebenskampf eher hinderte oder sogar unterstützte, es ist ein Wunder, dass er das Stadtleben ganze zwei Monate schadlos überstand.
Schließlich wird er in ein Waisenhaus gebracht, das seine Familie nicht finden kann, weil Saroo weder den Namen seines Dorfes, noch den seiner Mutter kennt. Er wird zur Adoption freigegeben und von einer australischen Familie aufgenommen, womit der zweite Teil des Films seinen Anfang nimmt. Leider ist dieser in seinem Ablauf genauso vorhersehbar wie der erste, was aufgrund der Auswahl bestimmter Erzählstränge und -weisen auch auf die Kappe des Filmteams geht. Eindeutig auf sich nehmen müssen sie allerdings die klischeebeladene Inszenierung. Die Dialoge sind hölzern und nehmen der Geschichte einen guten Teil ihrer Menschlichkeit. Nicole Kidman als Adoptivmutter und Dev Patel als Saroo im Alter von Mitte 20 liefern zwar beeindruckende Performances ab, dennoch ist ihre Wahl schwierig.
Natürlich ist es wunderbar, WeltklasseschauspielerInnen verpflichten zu können, dennoch wirkt sich ihre Auswahl auf die Wirkung der Geschichte im Medium Film aus. Alle sind schöner, alles ist magischer, eben typisch Hollywood. Es drängt sich aber auch die Frage auf, ob das nicht bei einer weniger aufwändigen Produktion ebenfalls der Fall wäre, ob „A Long Way Home“ überhaupt angemessen verfilmt werden kann oder nicht besser ein Buch hätte bleiben sollen. Mit der leisen Hoffnung, dass einem kompromissloseren, weniger auf große Bilder und romantische Momente oder auf ein anderes Genre setzenden Film mehr abzugewinnen wäre, spricht doch vieles dafür, dass nicht jeder Stoff verfilmt werden muss. Immerhin büßt die Story dadurch ein wenig von ihrem Wunder ein, sie wirkt, eingezwängt in die Konventionen des Films, gar nicht mehr so unglaublich, sondern eher banal. Ein erschreckendes Zeichen, wie sehr uns das Filmuniversum abstumpfen kann, wenn wir es nicht hinterfragen.
Eine Katastrophe ist „Lion“ aber bei Weitem nicht. Garth Davis kann große Bilder erschaffen, sollte sie in Zukunft nur geschmackssicherer einzusetzen wissen. Fans des oben beschriebenen Genres dürften sich aufgrund der zum Teil ruppigen Machart des Films durchaus herausgefordert fühlen, müssten letztendlich aber zufrieden mit den verdrückten Tränen sein. Genretypisch bleibt dann aber doch die Frage, aus welchem Grund sie das gerade Gesehene schätzen. Wenn es wirklich nur um das Entertainment eines „Feel-Good-Movies“ geht, wird das Saroos Geschichte abermals nicht gerecht. „Lion“ funktioniert zwar insofern, dass es das unglaubliche Wunder der Rückkehr beleuchtet, das nur mit bedingungsloser Liebe hat stattfinden können. Was dem Film fehlt, sind aber die Blicke nach links und rechts und das kritische Hinterfragen des Bildes, dass das Schicksal Saroos von der Welt zeichnet.
Die westliche Perspektive, die auch der Film einnimmt, zeigt ein rückständiges Indien, das gefährlich, dreckig und unberechenbar ist. Der Logik, nach der das Land funktioniert, wird bis auf Solidarität unter den Armen kaum etwas Positives zugeschrieben, Australien hingegen ist ein multikulturelles Paradies, in dem – so wirkt es durch die Auswahl der Szenen – nur die Adoptivkinder Sorgen machen. Gerade die detaillierte Beleuchtung der Probleme von Saroos Adoptivbruder Mantosh hätten den Kontrast aufbrechen und noch deutlicher zeigen können, was uns alle über Grenzen hinweg verbindet: Liebe. Andernfalls reproduziert der Film (durchaus nicht intendiert) die hässliche Seite einer globalisierten Welt, die statt Eine-Welt eher Werte der Kolonialzeit bedient. Das schließt ebenso das Konsumverhalten des „Feel-Good-Movies“ ein, bei dem die verdrückten Tränen nicht immer zu einer gelungenen Empathie-Übung gehören.
Trotz des eher negativen Eindrucks von „Lion“ darf man gespannt sein, welchen Weg Regisseur Garth Davis in Zukunft einschlagen wird. Eines ist dabei sicher: Die Zukunft wird er mit Rooney Mara beschreiten. Sie scheint einen Narren an Davis gefressen zu haben und hat gleich für zwei weitere Filme unter seiner Leitung unterschrieben. Besonders interessant dürfte die Umsetzung der Maria-Magdalena-Verfilmung sein, bei der Mara neben Joaquin Phoenix als Jesus die Hauptrolle übernehmen wird. In „Lion“ war ihr Auftritt dagegen fast schon unterfordernd. Ganz im Gegensatz zu ihrem Part in „Carol“ bot die Figur von Saroos Freundin kaum Chancen, eigene Akzente zu setzen und ihr Können unter Beweis zu stellen.
Beeindruckend ist hingegen die musikalische Seite des Films. Sia schrieb den Song „Never Give Up“ extra für „Lion“ und produzierte damit gleich einen weltweiten Hit. Für eine Oscar-Nominierung reichte es gar für die Komponisten des Filmsoundtracks, Dustin O’Halloran und Hauschka. Wer sich mit dem Letztgenannten auskennt, wird die einzigartigen Sounds aus dem präparierten Piano des Deutschen zu identifizieren wissen. Highlight des Soundtracks ist „Lion Theme“, bei dem die Stärken der beiden Komponisten zwischen Piano und Streichern zu ihrem vollen Ausdruck kommen. Doch trotz der insgesamt sechs Oscar-Nominierungen und dem relativen Erfolg an der Kinokasse, wird „Lion“ vermutlich eine Fußnote in der Filmgeschichte bleiben. Andererseits gab es auch schon schlimmere erste Schritte auf der Hollywood-Bühne, die Regisseur Garth Davis gerade erst für sich entdeckt.
Fazit: „Lion“ ist ein Romantik-Drama, das als Genrebeitrag durchaus zu akzeptieren ist und sogar einige Risiken eingeht, einer tiefergehenden Betrachtung hält der Film aber nicht stand. Regisseur Garth Davis zeigt gute Ansätze, bedient aber auch reihenweise Klischees und zielte merklich auf eine Oscar-Nominierung ab. Ob die wahre Geschichte Saroos überhaupt verfilmt werden sollte – und wenn ja, wie? -, ist eine Frage für sich, jedenfalls wird das Aufpolieren und das Auftragen von zusätzlichen Schichten Magie dem realen Wunder nicht gerecht. In dieser Form geht der Geschichte jedenfalls Magie verloren, weil der Film die Unglaublichkeit des realen Lebens eingrenzt und für seine Zwecke nutzbar macht. Abseits des „Feel-Good-Status“ agiert der Film unkritisch gegenüber den (nicht intendierten) Implikationen von Saroos Schicksal und bedient damit das Konsumverhalten der Genrefans, die aus wenig selbstlosen Gründen zusehen. Die schauspielerischen Leistungen sowie die musikalische Ausstattung können noch etwas rausreißen, letztendlich ist „Lion“ aber ein allenfalls durchwachsenes Filmerlebnis.
Cover und Szenebilder © Universum
- Titel: Lion – Der lange Weg nach Hause
- Originaltitel: Lion – The True Story Of Life Lost And Found
- Produktionsland und -jahr: AUS, IND 2016
- Genre:
Drama - Erschienen: 14.07.2017
- Label: Universum
- Spielzeit:
114 Minuten auf 1 DVD
119 Minuten auf 1 Blu-Ray - Darsteller:
Dev Patal
Nicole Kidman
Rooney Mara
Sunny Pawar
u.v.m.
- Regie: Garth Davis
- Drehbuch:
Saroo Brierley (Buch)
Luke Davies
- Kamera: Greig Fraser
- Schnitt: Alexandre de Franceschi
- Musik: Dustin O’Halloran und Hauschka
- Extras:
Interviews, Behind The Scences, Featurettes
- Technische Details (DVD)
Video: 2,40:1 (16:9 anamorph)
Sprachen/Ton: D, GB, IND
Untertitel: D, GB
- Technische Details (Blu-Ray)
Video: 2,40:1 (1080p/24)
Sprachen/Ton: D, GB, IND
Untertitel: D, GB
- FSK: 12
- Sonstige Informationen:
Produktseite
Wertung: 7/15 dpt