An einem Montagabend wechselte ich das Jahrhundert, befand mich immer noch in New York und dachte an Oliver Twist: „Jack Engles Leben und Abenteuer“.
Jack Engle ist ein Waisenjunge in New York, der droht, auf die schiefe Bahn zu geraten, aber in letzter Sekunde von dem Gemischtwarenhändler Foster und seiner Frau von der Straße geholt wird. Mit ihrer und der Hilfe weiterer Freund*innen erlebt Jack allerlei Abenteuer seine Herkunft, ein Erbteil, die Liebe und einen finsteren Anwalt namens Covert betreffend.
Beinahe taugt die Geschichte, wie „Jack Engles Leben und Abenteuer“ (erneut) das Licht der Welt erblickte, selbst zum Roman: rätselhafte Namen und Andeutungen in den Aufzeichnungen eines weltberühmten Lyrikers, ein findiger Literaturwissenschaftler und moderne Technik. Mit Hilfe einer Schlagwortsuche und Digitalisaten von über 100 Jahre alten Ausgaben der New York Times enthüllte Zachary Turpin schließlich die Weltsensation: „Jack Engles Leben und Abenteuer“, ein Roman von Walt Whitman.
Wer nun – auch ohne die Lektüre – meint, die Geschichte klinge bekannt, liegt richtig: Whitman gilt als Verehrer einer der literarischen Lichtgestalten des 19. Jahrhunderts: Charles Dickens. So verwundert es nicht weiter, das sein Jack Engle ganz wie Oliver Twist oder David Copperfield daherkommt: ein Kind in Nöten, aber mit einem großen Herzen, unerschütterlicher Aufrichtigkeit und jeder Menge wohlwollender Mitmenschen gesegnet.
Bezeichnend für New York bis heute – und wohl der größte Unterschied zum Dickens’schen London – ist die Zusammensetzung dieser Mitmenschen: Iren und Spanier, Juden und Quäker. Whitmans Fokus für sie liegt nicht auf den trennenden Eigenschaften in Herkunft, Haut- und Haarfarbe oder Religion, sondern dem, was sie verbindet – der Wille, Jack und seiner Liebsten Martha zu ihrem Recht und zur Freiheit zu verhelfen. Whitmans große Stärke besteht darin, sie liebevoll und mit Witz zu charakterisieren: »Ephraim Foster und Violet gefallen all diese Entwicklungen sehr, aber sie hadern auch nicht so leicht mit dem Lauf der Dinge, solange sie ihre Gesundheit und ein gutes Einkommen haben und sehen, dass ihre Freunde dieselben Segnungen genießen.« (160)
Whitman erreicht den gesellschaftlichen Tiefgang von Dickens’ Romanen nicht. Fast könnte man sagen, er behandelt dasselbe Sujet auf amerikanische, also oberflächliche Art, aber das würde weder Whitman noch den USA gerecht. Vielmehr merkt man dem Text an, dass er – Wieland Freund vermutet das in seinem Nachwort – unter Zeitdruck entstand. Immer wieder springt die Handlung von der Gegenwart in die Vergangenheit, tauchen Figuren unvermittelt auf, die aber eine gewichtige Rolle spielen, oder verschwinden Nebenhandlungen. Whitman gleicht dies mit charmanten Hinweisen des Ich-Erzählers auf die eigenen dramaturgischen Schwächen aus.
Fazit: „Jack Engles Leben und Abenteuer“ ist eine kurzweilige Lektüre, wenn Dickens einmal nicht in Leselust und Lesezeit passt. Die multireligiösen und multikulturellen Kollaborationen der Figuren tun besonders in Zeiten weltweiter identitärer und libertinärer Anwandlungen gut.
Cover © Manesse Verlag
- Autor: Walt Whitman
- Titel: Jack Engles Leben und Abenteuer. Eine Autobiographie, in der der Leser einige ihm wohlvertraute Figuren wiederfinden wird
- Originaltitel: (Life and Adventures of Jack Engle: An Auto-Biography in which the Reader Will Find Some Familiar Characters.
- Übersetzer: Renate Orth-Guttmann und Irma Wehrli
- Verlag: Manesse Verlag
- Erschienen: 05/2017
- Einband: gebunden mit Schutzumschlag
- Seiten: 192
- ISBN: 978-3-7175-2450-2
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