Lieder sind oft unfreiwillige Träger kurzer Erinnerungen. Ähnlich wie eine Geschmacksrichtung einen längst vergessenen Augenblick wiedererwecken kann, neigen auch Songs dazu, Momentaufnahmen zu sein. Mit Musik-Alben ist es anders – sie sind zumeist durch und durch biographisch und markieren ganze Lebensabschnitte, die von ihnen begleitet wurden. Radio Tarifa ist unweigerlich mit meiner kurzen Reise in die Gefilde der spanischen Folklore verbunden. Dies war eine Zeit, in der man Tapas aß und Sevillanas tanzte. Ich habe in dieser Zeit einige großartige Künstler persönlich kennengelernt, wie Saam Schlamminger, Joaquin Ruíz oder Manuél Palacin. Und natürlich Malena & Fredo Peluca. Es gab Techtelmechtel mit Flamencas – ein Sachverhalt, der letztendlich schwer zu vermeiden ist, gemessen daran, dass in dieser Szene das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Frauen und Männern bei ungefähr 10:1 liegt. Doch erwartungsgemäß komme ich schnell vom Thema ab.
Die nachhaltigste Erfahrung dieses hispanischen Capriccios war allerdings meine Entdeckung der mediterranen Formation Radio Tarifa. Der Ausdruck Melange lässt sich gut auf musikalische Werke anwenden, denn das Vermischen von Stilen und das Einen kultureller Gegensätze ist etwas, das Musikern deutlich besser gelingt, als dem Rest der Welt. Doch das Faszinosum von Radio Tarifa liegt in einem Brückenbau, der nicht nur den Orient und den Occident vereint (was gerade bei Flamenco Nuevo alles andere als selten ist), sondern auch die Folklore des 20. Jahrhunderts mit der Musik des Mittelalters verbindet. Die Brücken sind nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich.
Die Begegnung von spanischer und arabischer Musik ist ein Thema, über das bereits viel geschrieben, vor allem aber musiziert wurde. Südspanien gilt als der Schmelztiegel von Flamenco und nordafrikanischer Folklore. Nur ein schmaler Seeweg trennt Algeciras und Gibraltar von Ceuta und Tangier auf der afrikanischen Seite. Der südlichste Punkt der Iberischen Halbinsel hat einen Namen: Tarifa.
Die musikalische Hochzeit zwischen Nord und Süd wurde von keiner Band besser zelebriert als von Radio Tarifa. Ihr Debütalbum Rumba Argelina ist eine einzigartige Mischung aus andalusischem Flamenco, nordafrikanischer Berber-Musik und marokkanischer Gnawa. Doch Radio Tarifa legen noch eins drauf und erforschen die Musik des Mittelalters und unternehmen Klangexpeditionen, die von Griechenland, über Persien bis nach Japan reichen.
Der vielfältigen Quellenlage zum Trotz klingt die Musik von Radio Tarifa niemals eklektisch. Ihre Alben sind uniform und ausgewogen und haben eine starke, einheitliche Handschrift.
Radio Tarifa wurde in den späten 80ern gegründet. Der Nukleus der Band bestand aus dem spanischen Trommler, Schlagzeuger und Flamenco-Gitarrist Fain S. Dueñas und dem französischen Flötenexperten Vincent Molino. Ihr gemeinsames Interesse für die wenig erforschten Gefilde der mittelalterlichen Musik führte zur Gründung der Ars Antiqua Musicalis, die als direkter Vorläufer von Radio Tarifa gesehen werden kann. Als sie in Madrid den aus Granada stammenden Flamenco-Sänger Benjamín Escoriza kennenlernten, war der Grundstein für Radio Tarifa gelegt. Drei exzellente Alben in einem Zeitraum von rund zehn Jahren sollten folgen.
Das Debüt Rumba Argelina besitzt inhaltliche Ansätze, die das Werk mühelos als ein Konzeptalbum erscheinen lassen. Da ist zuerst die Natur der Lieder, vermengt mit experimentellen Audioeffekten, dem Rauschen von Radiowellen und dem übergreifenden Ambiente, das vermuten lässt, man hätte gerade eine Radiostation mit dem Namen Radio Tarifa aus dem Äther gefischt. Doch da ist auch die Erforschung der spanischen Kultur vor der reconquista, die in 1492 (zeitgleich mit der sogenannten Entdeckung Amerikas) ihren Höhepunkt nahm und mit der Verdrängung der Araber und Juden von der spanischen Halbinsel endete.
Das Album wird mit dem Titelsong Rumba Argelina eröffnet, einer traditionellen Melodie, die hier in einer quirligen berberischen Weise arrangiert wurde. Es wird gefolgt von Oye China, einem sentimentalen Klagelied. Lamma Bada ist ein stimmungsvolles arabisches Liebeslied und Mañana ist eine mittelalterlich angehauchte Ballade.
Mit La Canal stoßen wir auf eine treibende, abenteuerliche Komposition, voller Aufbruchsstimmung, beherrscht von Vincent Molinos Krumhorn-Spiel. Im Kontrast zu der mittelalterlichen Stimmung steht das von Eduardo Laguillo gespielte indische Harmonium.
El Baile der la Bola ist das pulsierende Schaustück Fain S. Dueñas, das unterschiedliche Perkussionen zu einem treibenden Trommelfeuer vereint. Auch die nächste Komposition stammt aus der Feder von Fain Dueñas. Soledad ist ein langsamer, atmosphärischer Song, exakt an der Grenze zwischen Flamenco, Ambient, Fusion und nordafrikanischer Musik. Zum ersten Mal dringen elektrische Gitarren zum Vorschein und ein atari-artiger Korg-M1-Sound.
Rumba Argelina ist kein Album, bei dem man leichtfertig Favoriten herauspickt. Zu spannend ist der Aufbau der Stücke. Die musikalische Reise durch Raum und Zeit ist kein überzeichneter World-Musik-Gulasch, sondern ein sensibles akustisches Abenteuer. Unter waschechten Flamenco-Aficionados geniesst Radio Tarifa ein hohes Ansehen, denn Stücke wie Tangos des Agujero und Bulerias Turcas präsentieren einen authentischen, ausdrucksstarken Beitrag zur modernen Flamencokultur.
Für mich liegt dennoch der Höhepunkt des Albums bei Nu alrest, dem zweifelsohne ältesten Musikstück des Albums. Das epische Lied von Walther von der Vogelweide, das uns in der Kleinen Heidelberger Liederhandschrift erhalten geblieben ist und besser unter dem Titel Palästinalied bekannt ist, wurde hier in einem getragenen Arrangement umgesetzt, das gleichermaßen die Musik des europäischen Mittelalters und des Nahen Ostens vereint. Der im Mittelhochdeutsch geschriebene Text wird von Javier Ruibál gesungen.
Nû lebe ich mir alrêrst werde,
sît mîn sündic ouge sihet
daz hêre lant und ouch die erde,
der man vil der êren gihet.
Nû ist geschehen, des ich ie bat:
ich bin komen an die stat,
dâ got mennischlîchen trat.
(Nun erst lebe ich mir würdig,
seit mein sündiges Auge
das hehre Land und auch die Erde sieht,
die man so vieler Ehren rühmt.
Nun ist geschehen, worum ich immer bat:
ich bin an den Ort gekommen,
den Gott als Mensch betrat.)
Mit dem langsamen, melancholischen Stück Nina klingt das Album schließlich im Rauschen eines Radioempfängers aus. Tschechische Sprecherstimmen schälen sich aus dem Knistern zwischen den Rundfunkstationen. Und dann ist es vorbei.
Radio Tarifa hatte während ihres 14jährigen Bestehens insgesamt nur drei Studioalben produziert – alle drei großartige Werke, die alle gleichermaßen jede CD-Sammlung aufwerten. Mit dem Tod des Flamenco-Trobadours Benjamín Escoriza in 2012 war diese großartige Band endgültig Vergangenheit.
Rumba Argelina ist kein Album mit einem tollen Cover. Das Layout der Erstauflage ist genaugenommen ein Desaster und es zeugt davon, dass die Band gar nicht damit gerechnet hatte, zu einem globalen Kultfaktor zu werden. Radio Tarifa war in erster Linie eine Live-Band und so sind die Musiker vermutlich davon ausgegangen, dass sie lediglich ein paar CDs brauchen, um diese nachts nach dem Konzert aus dem Kofferraum des Autos zu verkaufen. Hätte man geahnt, dass hier ein Meilenstein der modernen Flamenco-Kultur in Entstehung war, man hätte dem Cover vermutlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Bei ihrem Folgealbum Temporal hatten sie diesen Makel deutlich behoben. In den Wiederveröffentlichungen von Rumba Argelina hatte man immer wieder versucht, das Design des Debüts zu verbessern, doch richtig toll wurde es nie. So bleibt das Cover sicherlich der stärkste Minuspunkt dieser Produktion – doch gemessen an der geballten Musikalität und dem tiefgreifenden Einfallsreichtum dieses Albums, ist es freilich ein Jammern auf außerordentlich hohem Niveau.
Rumba Argelina ist nicht lediglich ein gutes Weltmusik-Album. Es ist ein einzigartiges Meisterwerk, das in äußerst stimmungsvoller Weise dem fast schon klischeehaften Ausdruck einer musikalischen Reise gerecht wird. Es darf getrost zu den besten Alben der modernen Musikgeschichte gezählt werden. Wer ein Ohr für nordafrikanische und iberische Musik hat, kann unmöglich durchs Leben gehen, ohne Rumba Argelina zu kennen. Dies ist Musik für die Raumstation. Durch und durch.
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Cover images © Música Sin-Fin, World Circuit, Ariola, BMG, Nonesuch