Ein wenig verdutztes und amüsiertes Kopfschütteln war angesagt, als in der Verlagsvorschau zu lesen war, dass “Rosalie” Berni Mayers literarisches Debüt sei. Denn mal ehrlich: Was war die “Mandel”-Trilogie, wenn nicht Literatur? Denn der Autor hat an seinem Schreibstil nicht allzuviel verändert, das Lokalkolorit ist geblieben, so auch eines der prägnantesten stilistischen Merkmale seiner Werke, nämlich Artikel vor Namen, etwa “der Böhmi” oder “der Bartl”.
“Rosalie” ist nun wirklich keine 360°-Wendung der mayerschen Schreibkunst.
Southern Gothic in der bayrischen Provinz
Lediglich das Setting ist ein völlig anderes, und mit ihm das Wesen und die Gefühlswelt des Protagonisten – besonders aber der Humor zeigt sich hier in einem anderen Gewand und viel subtiler – “Weltuntergangshumor” prangt da als letztes Wort nur allzu passend auf dem Backcover. Während sich die “Mandel”-Trilogie um zwei amateurdetektivgewordene Musikjournalisten dreht, die auf ihre ganz eigene Weise Kriminalfälle lösen, nimmt Berni Mayer den Leser mit diesem schicken rautengemusterten Druckwerk (welches doch bitteschön eine ganze Merchandise-Produktreihe mit sich ziehen sollte, ein garantierter Kunde wäre sicher!), mit in die bayrische Provinz der 80er Jahre, mit ein paar Sprüngen in die Jetztzeit – aus der Sicht des Konstantin Woff, dem Sohn eines Wirtshausbesitzers, in den 80ern in Praam an der Schwarzen Laaber aufgewachsen und nach vielen Jahren anlässlich der Beerdigung seines Vaters zurückkehrend.
Konstantin, von seinen Kumpels “Schwarzer genannt”, da er, Hard Rock-Fan, stets schwarze Kleidung trägt, fühlt sich in seinem Wohnort nicht wohl. Tat er nie, wird er nie. Ihn prägt diese Gegend mehr, als es ihm lieb ist, doch anstatt sich den Gegebenheiten anzupassen, ist er lieber der Außenseiter und macht sein eigenes Ding. Sein Freundeskreis ist überschaubar, und wenn er schon mal mit anderen unterwegs ist, dann doch meistens mit dem Böhmi und dem Bartl – ihrerseits fürwahr ebenfalls Menschen mit ihren eigenen Ecken, Kanten und Schrullen. Doch so deprimierend das Leben in diesem Kuhkaff ist und so lala er mit seinem eigenen Leben und seinem Ich dann doch irgendwie klar kommt, so hat er dort 1985 auch seine erste große Liebe Rosalie kennengelernt – und diese Liebe hängt mehr an einem seidenen Faden, als es den beiden gefallen mag. Die Liebe ist fürwahr ein Kampf, und Konstantin steht sich hierbei oftmals selbst enorm im Weg. Doch nicht nur sein kompliziertes Verhältnis zu sich selbst und anderen kostet Konsantin immense Kraft, sondern auch die Kirche respektive dem hoch geachteten Parzefall, das Elternhaus inklusive Großvater (von Konstantin “Zogo” tituliert), die Dorfgemeinschaft und ihre Gruppendynamik. Doch wie entflieht man dem Dorf und seinen unsichtbaren Klauen, die einen festhalten, als junger Mensch in den Achtzigern?
Zarte Blüten der jungen Liebe und eine im Wind baumelnde Leiche
Als er mit Rosalie das verranzte Wasserschloss des Ortes betritt, ahnt er noch nicht, was beiden wenige Minuten später widerfahren wird: Sie finden einen von der Decke baumelnden Toten, den alten Herrlich – und damit beginnt eine ganz eigene Art der Aufbereitung einer vergessen geglaubten Vergangenheit. Der Tote ist nämlich nicht irgendwer, sondern stellt den Schlüssel zu einem von den Dorfbewohnern vertuschten Verbrechen aus NS-Zeiten dar. Dieser Fund stellt die junge, ohnehin fragile Liebe Rosalies und Konstantins auf eine harte Probe, denn – so sagt es der Klappentext schon treffend: »Am Ende müssen Konstantin und Rosalie sich entscheiden: für jeweils eine Seite und für oder gegen das Schweigen« – der junge Wolff will der Sache auf den Grund gehen und holt später auch seinen Onkel Albert, Journalist für die Passauer Zeitung, ins Boot. Seine Herzdame hingegen würde am liebsten alles vergessen.
Der Schwarzgekleidete – immer wieder von rätselhaften fiebrigen Attacken geplagt – muss sich bei all den Investigationen, die ihn oftmals an den Rand seines Verstandes und seiner Belastbarkeit bringen, wie ein jeder andere junge Mensch mit dem Erwachsenwerden konfrontiert sehen. Mit den Entwicklungen, die die Liebe macht und machen könnte. Mit der Entdeckung seiner Sexualität. Mit den Versuchungen, die all das pubertäre und hormongeschwängerte Leben mit sich bringt. Mit dem Leben an sich und seinen Möglichkeiten. Und ebenjener Provinz, die diese Möglichkeiten mit Limitierungen und ungeschriebenen Gesetzen beschneidet und aus der es ihn eigentlich heraus treibt. Was viele Jahre später auch geschieht, wie aus den Schwenks gen Präsens hervorgeht.
Damals und heute
Viele Jahre sind zwischen dem Verlassen des Dorfs und der todesfallbedingten Rückkehr dorthin vergangen, und in der Jetztzeit trifft Konstantin auf seine früheren Mitmenschen. Viele davon leben nicht mehr, viele haben eine überraschende Laufbahn in ihrem Leben eingeschlagen, auch seine damaligen Freunde. Und auch Rosalie sieht er bald wieder. Vieles hat sich verändert. Viele haben sich verändert. Eigentlich alles um ihn herum, wenngleich das Flair des provinziellen Stehengebliebenseins omnipräsent ist. Und es stellt sich unweigerlich die Frage, was die Vergangenheit aus ihm gemacht hat. Was und wer er heute ist. Die Rückkehr nach Praam an der Schwarzen Laaber, sie ist das Betrachten einer Bilanz des Lebens, ein Resümieren.
Man darf es ruhig sagen: Berni Mayer ist mit “Rosalie” das wohl reifste Werk seiner schriftstellerischen Laufbahn gelungen, denn dieser Roman ist so schlüssig wie nie, und auch die vielen Nuancen und Feinheiten, die ohnehin schon typisch Mayer waren, kommen hier noch besser, weil effektiver zur Geltung. Ohne den Roman groß aufzublasen, weiß der Autor all die Details in all ihrer Fülle zu präsentieren. Man riecht den Zitronendurft in Rosalies Haaren, die regennasse Luft, den eigenartigen Geruch des Todes, als der alte Herrlich entdeckt wird, die komplexe Geruchskomposition im Wolffschen Wirtshaus, man spürt die Texturen, man entwickelt eine eigenwillig empathische und synästhetische Ader und fühlt die Gefühle mit, die Enge Praams engt einen selbst ein, die ganze Tragik und Komik überträgt sich auf den Leser, und die Menschen in diesem Buch erscheinen einem nahezu plastisch – man ist als Leser letztendlich stets der stille Begleiter, direkt an der Seite Konstantins. Und auch wenn die Situationen oftmals doch tragisch sind (oder stark kontrastierend komisch bis skurril), macht sich eine Art Wärme breit – das Buch hüllt einen ein.
Die Bizarrerie des Normalen
Fast wirkt der Roman wie – irgendwo anders stand es bereits sinngemäß in einer Rezension zum Buch – ein moderner Heimatfilm. So kauzig die Menschen sind, so normal sind sie, so heimelig fühlt sich alles an, denn letztendlich ist die Schrulligkeit und Kauzigkeit doch nichts weiter als die Bizarrerie des Normalen. Zusammen mit dem eigenwilligen Provinzgroove, den Mayer hier anschlägt, entwickelt “Rosalie” eine kleine Welt, in der man sich gern verliert. In der man mit den Figuren mitfiebert und mitleidet. Und die nach Zitrone duftet.
Cover © Dumont
- Autor: Berni Mayer
- Titel: Rosalie
- Verlag: Dumont
- Erschienen: 11/2016
- Einband: Gebunden mit Schutzumschlag
- Seiten: 288
- ISBN: 978-3-8321-9840-4
- Sonstige Informationen:
Produktseite
Erwerbsmöglichkeiten
Wertung: 14/15 dpt
Klingt so, als ob die Rundfunkgebühren in diesem Fall mal sinnig in eine atmosphärisch intensive Verfilmung fließen sollten. Die Stimmung kommt jedenfalls bereits in der Rezi rüber.
Ehrlich gesagt ging es mir das ganze Buch über genau so: Mensch, das wäre doch mal die Grundlage für einen richtig guten deutschen Film mit viel Heimatflair, ohne große Romantisierung der Gegend und mit der Kauzigkeit der Menschen.
Was ich mir halt unglaublich schwer vorstellen kann, ist, das mit ausreichend guten deutschen Schauspielern zu besetzen. Denn nichts finde ich in der hiesigen Filmlandschaft schlimmer als das Schauspieleraufgebot, das offenbar immer aus denselben 30 Gesichtern besteht.
Aber bei seinen “Mandel”-Büchern denk ich auch oft “filmisch”. Irgendwer meinte mal irgendwo, das wäre die perfekte Basis für ‘ne Helmut-Dietl-Verfilmung.