It’s all one song oder: 4 3 2 1 – Paul Austers Opus magnum
In jedem dicken Buch, hat der Kulturhistoriker Robert Darnton einmal gesagt, steckt ein dünnes, das schreit: ‘Ich will hier raus!’. Wenn dem nun wirklich so wäre, warum braucht es denn dann noch dicke Bücher? Darntons Sentenz mag sicher für eine Vielzahl an unnötig aufgeblähten Romanen gelten, doch für Paul Austers opus magnum ‘4 3 2 1’ trifft dies nicht zu. Eher noch Neil Youngs Ausspruch auf seinen Konzerten: ‘It’s all one Song’. Vertrautheit in der Basis – und darauf komponierte motivische Variationen, so ließe sich ‘4 3 2 1’ womöglich am ehesten beschreiben.
Paul Austers Lebensthema ist die Kontingenz. In all seinen Romanen und Erzählungen lässt er seine Protagonisten mit kontingenten Ereignissen, Begegnungen und Handlungen kollidieren und tastet sich gemeinsam mit dem Leser an mögliche oder auch unmögliche Reaktionen auf die Zufälle des Lebens heran. Es liegt in der Natur des Themas, dass Bücher, die auf dem Zufall beruhen, die Tendenz dazu haben, redundant, aussagelos und unstrukturiert zu sein. Natürlich sind auch solche Romane der Feder Paul Austers entsprungen.
Doch ‘4 3 2 1’ bündelt trotz seiner weit über 1000 Seiten die Stärken des Autors wie kaum ein anderes Buch von ihm. Der Zufall spielt auch hier die vielleicht größte Rolle. Austers Blick auf seinen Protagonisten, sein Gespür, mit nur wenigen Strichen eine Jahrhunderte umspannende Familiengeschichte zu entfalten und sein Mut, in diesem Roman gleich vier verschiedene mögliche Lebensläufe ein und desselben Protagonisten aufzufahren, ist milde gesagt bemerkenswert – und von der ersten bis zur letzten Seite hochgradig unterhaltsam.
Der schier allmächtigen, weil kaum zu fassenden Kontingenz stellt Auster Archibald Ferguson gegenüber. Wir erfahren, mit welchen Hoffnungen und Ambitionen seine Großeltern in die USA eingewandert sind – und was davon bis zu dem Zeitpunkt als Archibald geboren wurde verwirklicht wurde. Es sind Archibalds Wurzeln, ganz in Nietzsches Sinne. Überhaupt scheint die Gedankenwelt Nietzsches eine immer größer werdende Rolle im Werk Austers zu spielen. Auch hier finden sich immer wieder intertextuelle Bezüge vor allem zu Nietzsches Schrift ‘Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik’.
Die vier Leben des Archibald Ferguson: mal ist seine Familie wohlhabend, mal arm, mal geschieden, mal glücklich verheiratet. Immer aber arbeitet sich Ferguson an Literatur, Kino und Baseball ab – und er ist in allen Variationen seines Lebens politisch engagiert. Die nebeneinander geschalteten vier Lebensentwürfe nötigen vom Leser ein hohes Maß an Konzentration, vielleicht sogar Disziplin ab. Doch Paul Auster kontert dieses Kraftanstrengung mit einer exzellenten Bildsprache, die das Buch zu einem wahren Pageturner macht. Über allen Episoden, über allen Lebensentwürfen und nicht zuletzt auch über der Poetologie Austers steht die Frage, ob Charakter oder Zufall ein Leben oder ein Werk ausmachen.
So manche Episode dürfte dem ein oder anderen Auster-Kenner bekannt vorkommen, doch fügen sie sich perfekt in die Handlungsstränge ein und verdichten den Eindruck, dass der Autor mit diesem Roman tatsächlich sein gesamtes Schaffen zu einem großen ganzen verdichten möchte. Dazu zählen auch – auch das dürfte den meisten Auster-Lesern bekannt vorkommen – poetologische Reflexionen, die der Protagonist anstellt: Denn natürlich ist Ferguson in allen vier Lebensläufen auf irgendeine Weise schriftstellerisch tätig. Es ist beinahe logisch – und der Rezensent nimmt mit der nun folgenden Enthüllung nicht das Ende des Buches vorweg -, dass drei Fergusons sterben müssen. Einer überlebt. Dass dieser derjenige ist, der nun, Paris lebend, einen Roman namens ‘4 3 2 1’ schreibt, ist ebenfalls ein so typisches Motiv von Auster, das man schon irgendwie erwartet hat. Doch wie er dieses Motiv in diesen Roman einführt und erzählerisch gestaltet, gehört zu den großen Wendungen dieses Romans.
Wer dem Verfasser dieser Zeilen bis hierhin gefolgt ist, für den dürfte die nun kommende Wertung keine Überraschung darstellen. ‘4321’ ist Paul Austers größtes Buch und wächst dabei weit über sich hinaus. Es erzählt mehr, als die 1200 Seiten enthalten – es ist ein Schlüssel in die Erzähl- und Gedankenwelt dieses großen amerikanischen Erzählers.
Cover © rowohlt
- Autor: Paul Auster
- Titel: 4 3 2 1
- Originaltitel: 4 3 2 1
- Übersetzer: Thomas Gunkel, Werner Schmitz, Karsten Singelmann und Nikolaus Stingl
- Verlag: rowohlt
- Erschienen: 2017
- Einband: Gebunden
- Seiten: 1264
- ISBN: 978-3-49800-097-4
- Sonstige Informationen:
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Wertung: 14/15 dpt