Es ist der 30. April 1975, als nordvietnamesische kommunistische Truppen die Stadt Saigon erobern. Die Ich-Erzählerin Vi ist damals acht Jahre alt. Gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren drei Brüdern ist sie zur Flucht aus Vietnam gezwungen. Ihr Weg führt sie über Malaysia nach Kanada, wo sie ein neues Leben beginnen. Ihr Heimatland soll Vi erst im Erwachsenenalter wiedersehen. Dort drängt sich ihr ihre Entfremdung am deutlichsten ins Bewusstsein. Sie ist längst nicht mehr das konservativ orientierte Mädchen von einst und Vietnam ist lange schon zum bloßen Erinnerungsort geworden. Als erwachsene Frau blickt sie auf einzelne Szenen ihrer eigenen Vergangenheit und der ihrer Ahnen zurück. Jede einzelne Geschichte bildet dabei ein kurzes eigenes Kapitel. In Erinnerungsarbeit erzählt sie davon, wie ihre Großeltern, ihre Eltern und auch andere Menschen in ihrem nahen Umfeld, sowie sie selbst und ihre erste und auch zweite Liebe zusammen-, und zum Teil auch wieder auseinanderfanden.
Das Phänomen der Liebe als übergeordnetes, gemeinsames Prinzip, das die einzelnen Geschichten zusätzlich zu den Kernfragen nach Heimat und Identität zu einem großen Ganzen zusammenfügt, bleibt dabei nicht auf seine romantische Form beschränkt. Vi entdeckt die verschiedensten Ausprägungsformen von Liebe: von jenen freundschaftlicher Natur, über jene, die der Gottesverehrung gleich kommen bis hin zu jenen, die nicht immer gleich als Liebe offensichtlich sind. Neben der Verankerung seines eigenen Ichs innerhalb eines kulturellen Raums, um das es Vi bei der Rekonstruktion ihrer Vergangenheit geht, ist in Kim Thúys neuem Roman „Die vielen Namen der Liebe“ auch die Liebe zentrales Moment der Selbstverortung und der Identitätsbildung. Heimat, so eine wesentliche Erkenntnis Vis, ist weniger ein Ort, als vielmehr ein Gefühl, das überall dort gefunden werden kann, wo auch Liebe empfunden wird – so selbst in der Halsbeuge eines geliebten Menschen. Die Relevanz des leitmotivischen Moments Liebe hinsichtlich der Selbstfindung äußert sich in Thúys Roman zusätzlich im Einfluss von Personennamen. Die Namen der Liebe meinen nicht lediglich all jene unterschiedlichen Formen von Liebe, die Vi kennenlernt, sondern auch die Namen der Personen selbst, die von den liebenden Eltern mit Bedacht gewählt, nicht nur elementares Identitätsmerkmal und sogar Lebensaufgabe sind, sondern im Moment seiner Artikulation durch eine geliebte Person gar zum erhebenden Moment werden.
Gleichzeitig dient das Phänomen Liebe zur Darstellung der kulturellen Kluft. In vielen kurzen Einblicken werden aus der Sicht Vis die vielen Schwierigkeiten aufgezeigt, die westliche Freizügigkeit mit einer konservativen asiatischen Erziehung in Einklang zu bringen. Es kommt zu intra- sowie extrafamiliären Konflikten, Menschen distanzieren sich voneinander, Liebe zerbricht – ohne jedoch, dass Thúy tiefer auf das emotionale Leid der Betroffenen eingeht. Zwar werden nach außen sichtbare Folgen geschildert, die Innenwelt Vis, die so viel von sich preisgibt, ohne dabei wahrhaft tiefe Einblicke zu gewähren, bleibt jedoch weitgehend unerforscht. Dass Thúys Roman dennoch funktioniert, ist ihrer gedankenvollen Subtilität zu verdanken. So gibt es zahlreiche aussagestarke Momente, die, ohne stark zu emotionalisieren und einer gewissen Komik zu entbehren, zum Nachdenken anregen und ein klares Gefühlsbild vermitteln:
Als ich in Québec zum ersten Mal den Ausdruck, du stehst in meiner Komfortzone’ hörte, hielt ich das für eine Freundschaftserklärung, verbunden mit der Erlaubnis, das Denken und den inneren Raum meines Gesprächspartners zu erkunden, während ich tatsächlich daraus verschwinden sollte.1
Dass große emotionale Momente ausbleiben, kommt Thúys Roman insofern zugute, dass er trotz der starken Präsenz von Liebesgeschichten nicht ins Melodramatische abgleitet und sich so eine angemessene Ernsthaftigkeit bewahrt. Die Kürze der einzelnen Episoden evoziert jedoch das Gefühl, der Roman bewege sich lediglich an der Oberfläche der Dinge. Zwar gelingt es Thúy mit ihrer klaren und bildgewaltigen Sprache einen leichten, durch die Schilderung von Gerüchen und Geschmäckern zudem sehr sinnesorientierten Zugang zur Erfahrungswelt Vis zu schaffen, ihre Reichweite der Empathie bleibt aufgrund der defizitären Ergründung der konkreten Gefühlswelt und Psychologie ihrer Protagonistin jedoch beschränkt. Berücksichtigt man zudem die Tatsache, dass Thúys Romanen, so auch diesem, autobiographische Eindrücke der eigenen Flucht aus Vietnam nach Kanada zugrunde liegen und auch die Werdegänge von Autorin und Protagonistin deutliche Parallelen aufweisen, ist die Zaghaftigkeit der Autorin sehr zu bedauern.
Hinsichtlich Aufbau und Inhalt ist „Die vielen Namen der Liebe“ Thúys Debüt „Der Klang der Fremde“, das 2010 ebenfalls im Verlag Antje Kunstmann erschien, nicht unähnlich. In beiden Werken setzt sich Thúy in einer Vielzahl von Eindrücken mit dem Verlust von Heimat und Identität, der Neuerfindung dieser in der westlichen Fremde, der Schwierigkeit sich in einer solchen Lage der Zerrissenheit zu orientieren und der schrittweisen Entfremdung von den ursprünglichen, traditionellen vietnamesischen Lebensmustern und Werten bei zunehmender Integration in eine neue liberalere Welt, auseinander. Die Problematik, welche die vietnamesisch-kanadische Autorin Thúy in das Zentrum ihres Romans stellt, ist für ihre Bücher also keineswegs neu, könnte, ungeachtet des asiatischen Kontextes, aktueller jedoch kaum sein.
Wie die Hühner, die von den auf Booten lebenden Familien in den Hohlräumen dicker Bambusstäbe gehalten werden, blieb ich lieber still in unserer Wohnung, die im Vergleich mit unserem Eckchen Erde im Flüchtlingslager auch schon zu groß war. Mein Körper hatte sich dort den Körperformen meiner Brüder und meiner Mutter angepasst. Beim Schlafen hatte ich immer ihre Arme, ihre Rippen und den buckligen Boden gespürt. Wie sollte ich denn von einem Tag auf den anderen allein auf einer weichen Matratze liegen, statt in den Schweiß und Atem meiner Familie eingebettet zu sein? […] Wie meinen Weg finden vor einem endlosen Horizont ohne Stacheldraht und ohne Bewacher?2
Cover © Antje Kunstmann Verlag
- Autor: Kim Thúy
- Titel: Die vielen Namen der Liebe
- Originaltitel: Vi
- Übersetzer: Andrea Alvermann, Brigitte Große
- Verlag: Antje Kunstmann
- Erschienen: 03/2017
- Einband: Hardcover
- Seiten: 144
- ISBN: 978-3-95614-168-3
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