4:40 Uhr zeigt die Digitaluhr an, als die zwölfjährige Erin am 1. November 1988 aus einem Alptraum erwacht, um in der als „Höllen Morgen!!!“ im Kalender markierten Schicht Zeitungen auszutragen. Die Nacht von Halloween auf Allerheiligen ist unter den Zeitungsausträgerinnen, von denen es in den Achtzigern nicht viele gibt, als Herausforderung bekannt. Kostümierte und maskierte Teenager streifen, zu allen Schandtaten bereit, durch die Straßen von Stony Stream, Ohio. Dass die raren – lediglich vier in ihrer Zahl in Stony Stream – „Paper Girls“, wie sie von Brian K. Vaughan getauft werden, vor der männlich beherrschten Domäne des Zeitungsaustragens nicht zurückschrecken, rückt sie von vorneherein in ein emanzipiertes Licht. Weniger beeindruckt als vielmehr genervt vom Unfug der maskierten Teenager, nimmt Erin entsprechend kein Blatt vor den Mund und manövriert sich so schnell in eine missliche Lage. Nur mit Hilfe der anderen, bereits zur Gang zusammengeschlossenen Zeitungsausträgerinnen entkommt sie drei aufdringlichen Halbstarken. Um sich vor weiteren Übergriffen zu schützen, schließt sich Erin der Gruppe an. Mit Walkie-Talkies und einem Hockeyschläger ausgestattet bieten sie allem die Stirn, das ihnen Probleme macht.
In Stony Stream überschlagen sich die Ereignisse jedoch plötzlich regelrecht. Höchst sonderbare Dinge gehen in der Kleinstadt vor. Hinter mutmaßlichen Halloweenkostümen verbergen sich teils “nukleare Mutanten, die die Russen aus Tschernobyl geschickt haben“, so die erste Vermutung der Mädchen, und entwenden ihnen eines ihrer Walkie-Talkies. Eine Verfolgungsjagd setzt sich in Gang. Setting und Gedankengut der Protagonistinnen sind dem zeitlichen Kontext sowie ihrem eigenen Reifegrad glaubwürdig und plausibel nachempfunden. Nicht nur werden etwa die Russen gerne als Ursacher allen Unerklärlichen beschuldigt, auch in ihrer Ausdrucksweise scheuen die Mädchen vor nichts zurück. Derb und mit einer Vielfalt vulgärer Ausdrücke kämpfen sie sich in Karottenjeans, Bomber-, Collage-, Jeans- und Sportjacke auf ihren Fahrrädern durch den noch nachtdunklen Morgen. Grelle Farben prägen dabei die Panels, die vornehmlich in einem blau-violettem Kolorit daherkommen.
Die Zusammensetzung der Paper Girls soll einen Querschnitt der amerikanischen Vorstadtjugend ergeben, so dass die einzelnen, charakterlich, wie ethnisch, religiös und milieumäßig sehr unterschiedlichen Protagonistinnen vier gänzlich differente Identifikationsfiguren anbieten. Erin, mit welcher der Leser in die Geschichte einsteigt und die einen asiatischen Einschlag zu haben scheint, gibt von Beginn an sehr mütterliche Instinkte preis. Bereits im Traum ist sie gänzlich darauf bedacht ihre kleine Schwester Missy zu schützen. Die flippige, rothaarige Mackenzie, die von allen nur Mac genannt wird, repräsentiert die Rebellin, die aus schlechten Familienverhältnissen stammend, bereits mit ihren zwölf Jahren Schwierigkeiten mit dem Gesetz hat. Nicht nur gestaltet sie die Regeln ihrer Arbeit so wie es ihr gefällt, auch bei der Polizei von Stony Stream ist sie längst bekannt. Mac raucht, flucht, ist aggressiv und mit einer Waffe in der Hand die reinste – wenn auch unbeabsichtigte – Lebensgefahr. Ähnlich ungeschickt im Umgang mit Waffen ist die jüdische, eher unscheinbare KJ, die sich zum Schutz zwar mit einem Hockeyschläger rüstet, jedoch niemanden ernsthaft verletzten will. Obwohl sie sich gerne mal von einer Tafel Schokolade vom Ernst des Geschehens ablenken lässt, ist sie als Einzige, welche die auszutragende Zeitung auch liest, gleichzeitig die Einzige, die halbwegs informiert zu sein scheint. Die Kontrolle in allen Lagen obliegt dennoch primär der dunkelhäutigen Tiffany. Sie ist die Rationale, die stets einen kühlen Kopf bewahrt, sich im richtigen Moment KJ’s Hockeyschläger greift, um den Gegnern gezielte Schläge zu versetzen und gefährliche Situationen auf Anhieb erkennt. Sie weiß, dass eine sonderbare Maschine mit „Hauttuch“ nichts Gutes bedeutet, sondern eher „so eine Texas-Kettensägen-Kacke“ sein muss. Obwohl sie riskante Situationen möglichst zu vermeiden versucht, ist sie stets handlungsbereit, wenn es darauf ankommt.
Das Abenteuer, durch welches Vaughan seine vier Protagonistinnen im ersten Band seiner neuen Graphic-Novel-Serie jagt, ist ein sehr schnelllebiges und kurzweiliges, das vor allem zwei der Mädchen unmittelbar mit dem Tod konfrontiert und existenzialistische Fragen anspielt. Bangt Erin etwa zunächst im Traum, um das Leben ihrer jüngeren Schwester, gerät in derselben Nacht noch ihr eigenes Leben in ernste Gefahr und löst Erinnerungsbilder an die eigene Kindheit aus. Eine ähnliche Extremsituation muss auch Tiffany durchleben. Nachdem ihr bisheriges Leben, das sie vornehmlich an einer Spielkonsole zugebracht hat, vor ihrem inneren Auge Revue passiert ist, lässt sie der Gedanke, ihr Leben an ein sinn- und spaßloses Spiel vergeudet zu haben nicht mehr los. So kämpfen sich die Paper Girls in verdoppelter Existenzangst einem relativ abrupten, offenen Ende entgegen.
Rührt eine gewisse natürliche innere Existenzangst unweigerlich aus ihrer Adoleszenz, so kommt zu dieser also eine von äußeren, ihr Leben im physisch-substanziellen Sinne tatsächlich gefährdenden, Ursachen verursachte Angst, hinzu. Die Bevölkerung von Stony Stream löst sich spurlos Person für Person ins Nichts auf, und auf Flugsauriern reitende Gestalten in futuristisch anmutenden Rüstungen widersprechen den sich pazifistisch zeigenden verschleierten Gestalten, die in einer völlig fremden Sprache kommunizieren. Eine Zuordnung der Geschehnisse ist den Paper Girls dabei ebenso wenig möglich wie dem Leser. Ganz so wie die Protagonistinnen bleibt dieser nach diversen Begegnungen unerklärlicher Art im Ungewissen darüber, wer Freund und wer Feind ist.
Vaughans Streuung von nicht nur subtil eingeflochtenen Symbolen, wie etwa dem Apfel als Frucht des Baumes der Erkenntnis, der sich leitmotivisch in allen erdenklichen Weisen bis hin zum iPod in diese aufklärerische Daseinsphase der heranwachsenden Mädchen einschleicht, sondern auch von mysteriösen Andeutungen und sich widersprechenden Ereignissen und Begegnungen, macht das rasante Tempo, in welchem der Plot, ohne richtigen Spannungsaufbau und Emotionserzeugung, voranschreitet, jedoch wieder gut. Mehr noch, sie weckt die Neugier des Lesers auf gleich mehrfache Weise, indem sie dem Handlungsgeschehen Komplexität verleiht.
Welche Richtung Vaughans Genremixtur aus Coming-of-Age-Story und Science-Fiction- und Mystery-Adventure konkret einschlagen möchte, bleibt bis zu diesem Punkt, an den der Leser mit dem ersten Band der „Paper Girls“-Serie geführt wird, noch unklar. Vielschichtigkeit und Symbolik der „Paper Girls“ lassen jedoch Vielversprechendes erwarten.
Cover & Abbildungen © Cross Cult
- Autor: Brian K. Vaughan
- Titel: Paper Girls
- Teil/Band der Reihe: 1
- Originaltitel: Paper Girls
- Übersetzer: Sarah Weissbeck
- Verlag: Cross Cult
- Erschienen: 03/2017
- Einband: Hardcover
- Seiten: 144
- ISBN: 9783959811408
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Wertung: 12/15 dpt