Kurz erklärt und aus rein praktischem Nutzen Wikipedia zitiert: Ein Palindrom ist eine Zeichenkette, die sowohl vorwärts als auch rückwärts gelesen identisch ist. Klassische Beispiele für Wortpalindrome sind: “Lagerregal”, “Otto”, “Reliefpfeiler” oder “Rentner”. Doch auch Satzpalindrome wie beispielsweise “Eine güldne, gute Tugend: Lüge nie!”, “Ein agiler Hit reizt sie. Geist?! Biertrunk nur treibt sie. Geist ziert ihre Liga nie!” oder eben “O du relativ vitaler Udo!” lassen das Herz der Sprachspieler höher schlagen.
Titus Meyer ist ein absoluter Nerd hinsichtlich Buchstaben-, Wort-, ja, Sprachakrobatik und im deutschsprachigen Raum wohl der unangefochtene Meister dieser sehr speziellen Disziplin des Geschriebenen. Sein Vorgängerwerk “Meiner Buchstabeneuter Milchwuchtordnung” war ein Mix aus unzähligen, nach strengen Regeln erschaffenen Spielereien in Form von Palindromen, Anagrammen, Homogrammen, Schüttelreimen, Pangrammen, Mischformen aus den erwähnten -dromen und -grammen – und mehr.
Doch palindromische Mehrzeiler waren Meyer wohl nicht genug. Er wagte sich an das nächste Projekt, nämlich einen Palindrom-Roman namens “Andere DNA”, der sich netto über immerhin fünfzig Seiten (Seite 7 bis 56) erstreckt und irgendwo in den anfangdreißiger Seiten seinen Mittelpunkt hat. Und es darf vermutet werden, dass hiermit das wahrscheinlich längste Palindrom der Welt entstanden ist. Nach gewohnt strengen meyerschen Regeln.
Man sucht als Leser natürlich nach dem Sinn des Ganzen, doch die Augen und das Gehirn bleiben unruhig, und immer wieder blättert man auf die “gegenüberliegende” Seite des Buches und meint, überprüfen zu müssen, ob das auch wirklich vorwärts wie rückwärts funktioniert – und das tut es. Und klar, allein diese Tatsache lenkt einen doch sehr davon ab, etwas Inhaltliches aus “Andere DNA” zu ziehen. Man analysiert praktisch, sich vorsichtig hin und her bewegend, Bauteil für Bauteil eines perfekt symmetrischen Konstrukts.
Letztendlich fußt diese Buchstabenskulptur auf perfekter Buchstabensymmetrie, und in diesem Umfang kann man kaum abschätzen, wie viel harte Arbeit dahinter steckt. Denn Meyer verzichtet, so auf der Buchrückseite treffend bemerkt, zudem darauf, »in einen akkumulierenden Reihungsstil zu verfallen: Er bindet seine Funde, die teils aus den entlegensten Regionen der Wörterbücher herbeigeschafft sind, zu längeren syntaktischen Bögen.«
Und das ohne Ballast, ohne Füllstoff.
Ob das Wortgefüge, das Satzgewitter, das Erzählte, der Roman als Ganzes, irgend eine Bedeutung hat, ob ein Inhalt vermittelt werden soll, ist der Interpretationslust und der Deutungskraft des Lesers überlassen, und, wenn wir schon mal am Zitieren sind, es ist wohl gar nicht so abwegig, dass die Wortkunst hier »zu einer Art Paranoia, einem melancholischen Fiebertraum« entgrenzend beschrieben wird
“Andere DNA” ist die schrift- und papiergewordene Liebe zur Sprache und ihren Möglichkeiten. Denn die verschriftlichte Sprache kann mehr sein, nein, sie ist mehr als nur ein Kommunikationsmittel, mehr als ein Informationsinstrument, mehr als die textliche Aufarbeitung einer Erzählung oder der strukturierten musikalischen verbalen Wiedergabe. Sie kann auch ein Spielzeug sein wie in Rätseln und Gesellschafts- und Videospielen wie Wordox, Boggle oder Scrabble. Sie kann die Farbpalette für Sprachgemälde sein. Sie kann ein Baukasten der Kunst sein. Sie kann entstellt, pervertiert, filettiert und skelettiert werden. Sie kann zu einem Scherbenhaufen zerschlagen werden, aus dem etwas Neues entstehen kann. Man kann alles mit ihr tun.
Und Titus Meyer nimmt das wörtlich. Buchstäblich.
- Autor: Titus Meyer
- Titel: Andere DNA
- Verlag: Reinecke & Voß
- Erschienen: 2016
- Einband: Art des Einbands
- Seiten: 60
- ISBN: 978-3-942901-20-8
- Sonstige Informationen:
Produktseite beim Verlag
Wertung: 15/15 dpt