Las man Thomas Melles Romane “Sickster” und “3000 Euro”, so hoffte man hier und dort, dass der Verfasser dieser Werke nicht so kaputt ist wie einige ihrer Figuren – doch mit dem neuen Buch “Die Welt im Rücken” verlässt Melle das fiktionalisierte Erzählen und präsentiert sich der Welt mutig als Protagonist. Nach einem drei Kapitel starken Prolog steigt er im Jahr 1999 ein und erzählt seine Geschichte – mit kleinen Löchern – bis zum Jahr 2016, in welchem die Druckversion des Buches erschien. Ein paar Monate später, im noch jungen Jahr 2017, liegt nun die vom Autor selbst gelesene, ungekürzte Hörbuchversion vor.
Im Englischen gibt es die bekannte Wendung »the Elephant in the Room«. Sie bezeichnet ein offensichtliches Problem, das ignoriert wird. Da steht also ein Elefant im Zimmer, nicht zu übersehen, und dennoch redet keiner über ihn. Vielleicht ist der Elefant peinlich, vielleicht ist seine Präsenz allzu offensichtlich, vielleicht denkt man, der Elefant werde schon wieder gehen, obwohl der die Leute fast gegen die Zimmerwände drückt. Meine Krankheit ist ein solcher Elefant. Das Porzellan (um ihn gleich durch sein zweites Bild stampfen zu lassen), das er zertreten hat, knirscht noch unter den Sohlen. Was rede ich von Porzellan. Ich selbst liege drunter.
Mit viel Selbstreflexion, die nicht selten in eine intensive Selbstanalyse transformiert, lässt Melle sein Leben Revue passieren und zeigt dem Leser respektive Hörer, wie er zu Beginn noch gar nicht so recht wusste, was sein Verhalten in bestimmten Situationen, seine Haltung im und zum Leben, seine extremen Stimmungsschwankungen bedeuteten. Denn anfangs war ihm noch nicht klar, dass er zu den zahlreichen Menschen gehört, die manisch-depressiv sind, Borderliner sind – oder, wie man es heute nennt, unter einer bipolaren Störung leiden. All das wird ihm erst später bewusst und auch bewusst gemacht, und irgendwann versucht er auch, Hilfe zu bekommen und an sich zu wachsen, aus seiner Situation zu lernen – immer wieder von dieser heftigen Auf- und Abfahrt der Psyche beeinflusst, deren “Peaks” in beide Richtungen immer extremer werden. Auf Energieschübe und unbändigen Tatendrang folgt stets der Fall in ein tiefes Loch, und nicht selten existiert auch der eindeutige Wunsch, dem eigenen Sein die physische Existenz zu entziehen.
Er erzählt von seinem Seltsamwerden, von seinen Entgleisungen, seinen psychotischen Phasen, seinen Wahrnehmungsverschiebungen und -extremisierungen, seinen im Kopf stattfindenden Erlebnissen mit Prominenten, seinen peinlichen Situationen, seiner Unfähigkeit, Begeisterung und Freude zu empfinden (und dann doch), von seinen kreativen Aufwinden (und dann doch wieder nicht), von seinem jetzt ja, und dann doch nein. Null und eins. Himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Lebensfreude und Todessehnsucht. Ein stets hin und her schwingender Pendel, der sich jederzeit aus seiner Verankerung lösen könnte. Denn letzten Endes sind sie doch wohl trotzdem alle gegen ihn. Alles will ihn zerstören, ihn. Er ist im Fadenkreuz dieses Etwas, das ihn niederstrecken will. Es muss sich um eine Verschwörung handeln.
Der Autor beweint seine psychische Krankheit jedoch nicht, sondern meistert es nahezu nonchalant, sie mit einer ureigenen Form des Abstands von sich selbst zu erzählen. Da Thomas Melle in seinen schonungslosen Formulierungen durchaus auch mal einen flapsigen Ton durchscheinen lässt, der dem Galgenhumor nicht allzu fern ist, muss man durchaus auch mal schmunzeln, doch niemals verhöhnt Melle seine bipolare Störung oder redet sie klein. Ganz im Gegenteil: Sie ist omnipräsent, sie schiebt ihn die Leiter der Freude empor, um ihn dann mitsamt der Leiter wieder in den Abgrund krachen zu lassen. Vielmehr kann man den Ton, den Melle anschlägt, als eine Art Arrangement mit sich selbst, als eine Art der Bewältigung interpretieren – vielleicht auch als eine Art verbalen Befreiungsschlag. Oder als Katharsis durch Schreiben.
Bei all den Schilderungen seiner Erlebnisse und der Vorgänge in seinem Kopf ist Melle – so prangt es auf der Rückseite der schicken CD-Box – “erzählerisch funkelnd, autobiografisch radikal”, und das trifft auch ohne Zweifel ins Schwarze. Denn er legt in “Die Welt im Rücken” einen entwaffnend ehrlichen Seelenstriptease hin, der durch die präzisen Formulierungen nicht selten den Körper bis ins Mark durchdringt – gerade, wenn man einerseits im Falle vorhandener Empathie sofort spiegelneurotisch reagiert und selbst schon depressive Phasen und Angststörungen durchlebt hat. Und so hat “Die Welt im Rücken” nicht nur eine eventuell seelenreinigende Funktion beim Autor, sondern sensibilisiert den Leser/Hörer, lässt ihn in sich selbst hineinhorchen und nimmt ihn an die Hand. Ob das die Intention des Autors war, sei dahingestellt, aber Effekte wie die eben geschilderten dürften bei so manchem Konsumenten dieses (Hör-)Buchs zweifellos auftreten. Möglicherweise liegt das daran, dass Melle den Konusmenten dieses Werks so offen und bedingungslos an seinen Erlebnissen, Gedanken und Zwischenbilanzen teilhaben lässt.
Dabei ist es faszinierend, zu sehen, wie sich Melle selbst immer besser kennen lernt – und bemerken darf, dass er sich nach all den Jahren trotzalledem noch nicht wirklich gut genug kennt. Jeder Tag ein neuer Prozess des Lernens und der Selbsterfahrung – auf einem holprigen Gleis, auf welchem der Zug immer weiter nach vorn rauscht. Wohin auch immer. Rein In die Psychiatrie. Raus aus der Psychiatrie. Suhrkamp-Stipendien und andere Desaster. Rein in ein Heim, raus aus einem Heim. In Beziehungen hinein. Aus Beziehungen hinaus. Medikation zur Eingrauung allen Lebens. Mit Nebenwirkungen. Absetzungen gen Overkill. Mit ungeahnten Auswirkungen. Ausschleichungen. Abhängigkeiten. Rückfälle. Hass. Liebe. Angst. Unbesiegbarkeit. Helldunkelhelldunkel. Erkenntnis und Negation derselben.
Ich bin einer derer, die die Jahreskarte gezogen haben. Wenn ich abrutsche oder hochfliege, dann für eine lange Zeit. Dann bin ich nicht mehr zu halten, ob im Flug oder im Fall.
Doch “Die Welt im Rücken” ist mehr als diese autobiografische Bestandsaufnahme, denn gleichzeitig demaskiert Melle die Gesellschaft, offenbart ihre zum Teil doch sehr vorhersehbaren Mechanismen, die Heterogenie der Charaktereigenschaften Einzelner untereinander und in sich selbst. Er seziert mit demselben verbalen Skalpell, mit dem er diesen 352-Seiter beziehungsweise Neuneinhalbstünder zusammengefügt hat, auch das ganze Gefüge um ihn herum. Um uns herum. Und all das mit einer Intensität und einer Wortgewalt, durch die dieses (Hör-)Buch durch glänzende Textnuggets auf seine ganz eigene Weise erstrahlt.
Man muss sich anfangs an die Erzählstimme des Autors gewöhnen, denn sie birgt durchaus eine Monotonie in sich, fast so, als hege Melle heftiges Desinteresse an sich selbst. Man fühlt sich zuerst gar immer deprimierter von allem, gerade anhand des doch sehr harten verbalen und vor allem inhaltlichen Tobaks. Doch je mehr man in seine Psyche eintaucht, je mehr man in seine Geschichte hineingezogen wird, desto besser passt alles zueinander, und am Ende kann man sich sicher sein, dass die Vertonung des Hörbuchs so, wie sie ist, perfekt ist. Zumal eine überphrasiertere Version seiner selbst die Ernsthaftigkeit zerstört, zu viel Theatralik sie gar verhöhnt hätte.
Cover © ROOF music/tacheles!
- Autor: Thomas Melle
- Titel: Die Welt im Rücken
- Label: ROOF music/tacheles!
- Erschienen: 26.01.2017
- Sprecher: Thomas Melle
- Spielzeit: 9:37 Stunden auf 7 CDs
- ISBN: 978-3-86484-442-3
- Sonstige Informationen:
Ungekürzte Lesung
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Die Buchversion erschien 2016 beim rowohlt Verlag
Wertung: 14/15 dpt