Die Literatur, die Großstadt – das gehört zusammen, und zwar nicht erst seit Fotos von Buch und Kaffeekunst zu den beliebtesten Motiven auf Instagram gehören: Eine Geschichte aus der Weltstadt, von ihren Menschen und Büchern.
Es ist Zeit für ein Coming-out (keine Sorge, ich habe Erfahrung damit), denn wer ich bin, sieht und hört man mir nicht an: Ich bin ein Migrantenkind, Einwanderer in zweiter Generation. Normalerweise spielt das in meinem Leben (abseits der praktischen Mehrsprachigkeit) kaum eine Rolle, denn ich bin von reichlich heller Haut und mein Name verrät mich nicht.
Kürzlich aber fiel mir ein Buch in die Hände, das ich vergangenes Jahr bei einer Eskalation im Lieblingsantiquariat mehr aus Nostalgie denn aus Neugier mitgenommen habe. Woher kam diese plötzlicher Anwandlung? Ganz einfach: Der Autor ist Ungar und seinem Namen sieht man es an. Das Lesen von György Dalos’ „Die Beschneidung“ weckte Erinnerungen und ein Gefühl von Daheimsein. Ich kam nicht umhin, mich zu fragen: Wie hängen Heimat und Bücher zusammen?
Ich bin kein besonders heimatverbundener Mensch. Die oberlausitzer Kleinstadt, in der ich aufwuchs, weckt in mir keinerlei sehnsüchtige Gefühle, genauso wenig wie Bücher in der typischen Mundart oder aus dem Sagenschatz dieser Region. Mit 22 Jahren verließ ich sie frohen Herzens und war seitdem an unterschiedlichen Orten zuhause. Zuhause, das ist da, wo ein Bett steht. Zuhause ist, wo Freund*innen sind.
Beim Lesen von Dalos aber fiel mir so manches ein, was ich, ohne zu zögern, Heimat nennen würde: eine überfürsorgliche und ewig um das Wohl ihrer Nachkommenschaft klagende Nagymama. Gastfreundschaft zu jeder Tages- und Nachtzeit und das allabendliche Umräumen der Wohn- zu Schlafräumen. Diese Dinge gehören nicht in die sächsische Provinz, sondern ins nordöstliche Ungarn.
Meine Mutter brachte diesen Landstrich als Gastarbeiterin in den 1970er Jahren mit nach Deutschland, seine Sprache, sein Temperament, die matriarchalische Selbstverständlichkeit unserer Familie (die auch in Ungarn nicht wirklich typisch ist). Und mit meiner Mutter kamen ihre Bücher (die sich im Lauf der Zeit in unserem Haus vermehrten): Krimis, Biographien, historische Romane, Klassiker der ungarischen Literaturgeschichte. Es gab Zeiten in meiner Kindheit, da saß meine Mutter lesend beim gemeinsamen Abendessen zZweifellos stöhnen ältere und jüngere Eltern nun gleichermaßen auf, aber es ist eine schöne Erinnerung). Auch meine lesende ungarische Mutter ist Heimat.
Seit einiger Zeit aber bin ich dieser Heimat vor allem räumlich beraubt: Ungarn galt als Vorzeigestaat unter den Ländern des ehemaligen Ostblocks. Dort wurden die ersten Schlagbäume geöffnet und damit die Wiedervereinigung nicht nur Deutschlands sondern auch Europas Realität. Die Zeiten europäischen Geistes allerdings sind seit etlichen Jahren vorbei: Offene Fremden- und Demokratiefeindlichkeit bestimmen die Politik dieses Landes, Einschränkungen der Kunst- und Pressefreiheit; die Ausgrenzung von Minderheiten gehörte – mehr oder weniger – seit jeher zum guten Ton. Als ich das Land zuletzt vor drei Jahren bereiste, wurden Denkmäler für faschistische Politiker errichtet und Ortseingangsschilder mit altungarischen Buchstaben aufgestellt. Religiöser Nationalismus und Geschichtsrevisionismus bilden eine unschöne Mischung mit tausendjähriger Bemäntelung und für alles dürfen der erste König des Landes und seine Krone herhalten. Köszönöm szépen!
Weitere Reisen erübrigten sich also, aber das Gefühl von Heimat blieb. Nun suche (und finde) ich es – wenn nicht in der bayrischen Küche meiner Mutter – in Büchern: Manchmal der Lebenswelt wegen, die sie beschreiben; manchmal um des melancholischen Tons willen und manchmal, weil die Übersetzung die ungarische Satzstruktur und Redeweise verrät. Antal Szerb (der leider nur sehr wenig bis zu seinem jungen Tod veröffentlichen konnte), Gábor Fonyád (noch so ein Fall von positiver Diskriminierung im Buchladen aufgrund eines eindeutigen Namens), Zsuzsa Bánk (die erste ungarische Autorin, die ich überhaupt jemals las), János Székely (den ich gerade lese), Sándor Marai (der noch gelesen werden will) und natürlich György Dalos (ein Streiter für den europäischen Geist) – ihre Bücher sind meine Heimat, auch wenn ich mich in unzähligen anderen zu Hause fühle.
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