Die Literatur, die Großstadt – das gehört zusammen, und zwar nicht erst, seit Fotos von Buch und Kaffeekunst zu den beliebtesten Motiven auf Instagram gehören: Nach dem erfolgreichen Wohnungswechsel heute die erste Geschichte aus der Weltstadt, von ihren Menschen und Büchern.
Als sich die Menschen vor etlichen Jahrtausenden (sorry, liebe Kreationist*innen, es sind mehr als sechs) zu Kronen der Schöpfung erhoben, taten sie dies jagend und sammelnd. Gut möglich, dass sie zu diesem Zeitpunkt in unser Leben getreten sind: die Dinge; Kultobjekte, Identitätsversicherungen und Artefakte. Im Durchschnitt besitzt heute jede*r von uns 10.000 davon: Zahnbürsten, Bettdecken, Wasserkocher, Schuhe, Blumentöpfe, Aktenordner. Wenn die Menge der Dinge einen Umzugswagen füllt, kann das durchaus einschüchternd wirken, bedrückend, vielleicht auch verunsichernd.
Aber: Kein moderner Angsttrigger ohne – die allseits beliebte – einfache Lösung; zweifellos ist er ein Produkt des Wohlstands: Der Minimalismus, jener wunderbare Trend, der das Wenige und das Einfache zum Heilsversprechen erhebt. Sein Evangelium ist so kurz wie bestechend: Befreie dich von deinem Kram, denn er belastet dich. Die Dinge, die du besitzt, besitzen irgendwann dich. Besser, du wirst sie vorher los. Daraus erwachsen deinem Leben Leichtigkeit, Sorgenfreiheit und Klarheit – mit anderem Wort: Erlösung. Die einschlägigen – gern mit viel Weiß gestalteten – Blogs zieren Bilder und Beschreibungen leerer Zimmer und Regale. Nichts ist zu viel, nichts liegt ungenutzt herum, alles ist schön sauber und einfach.
Ein verlockender Gedanke. Ich kam nicht umhin, mich zu fragen: Wie sähe mein Leben ohne Dinge aus?
Der Wegzug aus der Kulturstadt, in der es leider längst viel zu braun zugeht, in die Weltstadt bot die perfekte Gelegenheit für einen kleinen Selbstversuch. Schränke und Regale wurden ausgeräumt und ihr Inhalt auf Herz und Nieren geprüft. Da wurden kiloweise alte Fotos entsorgt (gelobt seien die 1990er), Tisch- und Handtücher, Bettwäsche, alte Briefe (gelobt seien die 2000er), Glückwunschkarten, Taufkerzen und ein ganzes Theologiestudium verschwanden im Müll. Es war die reinste Freude: der Stapel der Kisten wuchs, aber mehr noch der Berg der Dinge, die nicht mitkamen und – was soll ich sagen – es fühlte sich tatsächlich erleichternd an, befreiend. Wozu Glückwunschkarten von 1997 durch die Gegend fahren, die ich seit damals nicht mehr angeschaut habe? Ich entfaltete missionarischen Wahn. Der beste Ehemann von allen wurde zum „strengen Sortieren“ seiner Sachen angehalten und harte Kämpfe entbrannten an der Frage „Kommt mit oder bleibt?“. Man will ja gründlich sein.
Aber wie es mit vermeintlich einfachen Lösungen häufig der Fall ist, ihr grausamer Absolutismus liegt im Detail. Einfachheit und Einfalt klingen nicht zufällig ähnlich. In jedem Leben gibt es Dinge, die so eng mit dem eigenen Sein verschränkt sind, dass sie eben nicht nur Dinge sind. In meinem Fall sind das 449 Dinge (plus ein paar aus der Fachabteilung, die aus nostalgischen Gründen ebenfalls unangetastet blieben). Die Rede ist natürlich von meinen Büchern.
Obwohl ich gern Tolkien nennen würde, war es Paul Kearney, dessen „Königreiche Gottes“ meine ersten Fantasybücher waren. Ich habe damals nur zwei Bände gelesen (im kleinstädtischen Umfeld antiquarisch bestimmte Bücher zu beschaffen, war in den 1990ern noch nicht so einfach). Wir feiern demnächst vermutlich unser 20-jähriges Zusammenleben.
Etwas später – vermutlich vor zehn Jahren – fielen mir Thomas Manns „Buddenbrooks“ auf einem Flohmarkt in die Hände. Ich habe dieses Buch dreimal angefangen zu lesen – zweimal brach ich nach dem ersten Kapitel ab. Beim letzten Versuch zeichnete ich mir einen Stammbaum, las weiter und lernte Thomas Mann verehren. Er öffnete mir den Weg zu seinem Sohn Klaus, den ich wirklich liebe. Niemals käme mir in den Sinn, die – inzwischen nicht unerheblich lange – Reihe Mann’scher Bücher nicht mitzunehmen.
Ich könnte endlos weiter begründen, warum jedes Buch mitgekommen ist: Tolkien, Rowling und Rothfuss – keine Diskussion! Arthur Goldens „Geisha“ war die erste literarisch durchzechte Nacht meines Lebens (aber bei weitem nicht die letzte). „Drag King Träume“ und „Stone Butch Blue“ – was täte ich ohne euch? Als der beste Ehemann von allen mir aus „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ vorlas, habe ich Tränen gelacht und bei manch anderen Büchern in der Straßenbahn geweint.
Melancholische, lustige, ernste und ironische Bücher sind Teil meiner Persönlichkeit, meine Gefährten und die lässt man nur in größter Not zurück. So kam es schließlich, dass der mit Abstand größte Kistenbestand meine Bibliothek enthielt; mit 17 Kartons waren es fast doppelt so viele wie der nächstgrößte Posten (die Küche). Jede einzelne hatte ich im Laufe der letzten Wochen vier- bis fünfmal in der Hand. Ich kenne das Gewicht, das sie meinem Leben verleihen. Ich weiß, dass dieser Stapel das Leben verkompliziert, wenn er im Weg steht.
Es ist einer Frage der Treue, der Loyalität und es ist – wie in jeder guten Beziehung – eine willentliche Entscheidung und kein Bauchgefühl. Einem spontanen Impuls nachzugeben ist einfach, Minimalismus ist einfach. Entscheidungen zu treffen und zu verantworten ist viel schwieriger, viel komplizierter. Aber die Last von Gewichten macht stärker und Komplikationen geschickter. Auch wenn schwierige Zeiten einfache Lösungen attraktiv machen, letztlich muss man sich entscheiden, „zwischen dem einfachen Weg und dem richtigen.“