Zerrüttung startet wie gehabt: Ein Kriegsinvalide betritt eine Bar, sein verbranntes Gesicht wird von den Dorfdeppen kritisch beäugt, er bekommt aber immerhin einen Drink und vier Bier umsonst. Draußen klatscht es, dann stolpert eine magersüchtige, verpickelte Dorfschönheit herein und wird von ihrem Mann verprügelt. Joseph Downs, der Ex-Militär, kennt da natürlich kein Halten, zerschmettert die Bierflasche am Kopf des Gatten und tritt mehrmals auf den am Boden Liegenden ein. Ein paar Tage später macht Lilith, die Ehefrau, Joseph Downs ausfindig und bittet ihn, ihren Mann zu ermorden; vorher gibt es allerdings noch ein paar Kuscheleinheiten. So weit, so achselzuckend – bis einem auffällt, dass die Zerrüttung schon längst stattgefunden hat: Dass man überhaupt glaubt, es handele sich um einen klassischen Krimi, der seine Register zieht, zeugt nur von der eigenen Bereitschaft, Wahnsinn so lange zu ignorieren, bis alles in Scherben liegt. Nur: Diese Scherben sind Literatur; ziemlich gute sogar.
Man liest die Geschichte aus Downs Perspektive und fürchtet sich auf den ersten Seiten nicht vor der Intrige Liliths, sondern davor, dass man genau einschätzen kann, wann, wo und wie sie ausgeführt wird. Denn würden diese Erwartungen bestätigt werden, hätte man knapp zweihundert Seiten Langeweile vor sich. Der beklemmende Stil kann über die ersten Seiten retten; und dieses vorläufig leichte Unbehagen weitet Bassoff mit Geschick aus. Der Einsatz von Genre-Konventionen und erzähltechnischen Verschiebungen ist brilliant – und dass das manische Erzählen als solches nicht sofort auffällt, ist die größte Stärke des Textes. Schon auf den ersten Seiten, als Downs die Bar betritt und nebensächlich einen fetten, betrunkenen Typen am Tresen beschreibt, kann Unbehagen aufkommen: “Sein Overall war voller Farbe oder Blut.” (S. 10) Wirklich sichtbar werden diese Stellen allerdings erst beim zweiten Lesen, im anfangs noch ruhigen Erzählfluss neigt man dazu, diese Stellen zu übersehen. Und bis hierhin könnte es sich in der Tat noch um einen ordinären Noir handeln. Der Wahnsinn wird aus der Normalität geboren. Bassoff lässt seinen Erzähler im paranoiden Taumel zwischen Maskenspiel und Gewaltexzess durch ein kaltes und verschlossenes Nordamerika schlingern, doch der Exzess dringt nur tropfenweise in die Geschichte. Trotzdem ist das nichts für Zartbesaitete; eine Mischung aus Tropffolter und Dammbruchgewalt. Bassoff lässt seinen Protagonisten nicht nur draufhauen, er prügelt weiter, verliert sich in der Gewalt, die auch nicht am eigenen Körper endet – bis die eigene Stimme sich zersetzt, expressionistisch-lyrisch wird, dabei aber nicht ganz ohne Witz bleibt.
Trotz des oftmals durchaus nachvollziehbaren Wahns kitzelt Bassoff auch den Optimismus der Lesenden: Es ist vielleicht keine Spannungskurve, aber eine kluge Dramaturgie, dass nach und nach jeder mögliche, halbwegs sympathische Ausgang der Geschichte unterminiert, zersetzt wird. Doch es gibt Verschnaufpausen, das Essen eines Kirschkuchens im Diner oder eine zufällige, zuvorkommende Mitfahrgelegenheit. Nur, dass sich die meisten dieser kurzen Entspannungsphasen als Nährboden für heftigere Exzesse des Erzählers zeigen; zwei Seiten später, fünfzig Seiten später. Dass Bassoff Hoffnung weckt, wo sie unmöglich ist, ist perfide – und baut eine eigenartige, einnehmende Spannung auf. Es ist die Erwartung, dass es doch eine “echte Chance auf Veränderung” (S. 179) gibt, gleichzeitig ein ‘yes, we can’ und ein ‘make it great again’. Bei Bassoff ist ‘Veränderung’ das Motto einer mörderischen Flitzpiepe.
Die lyrischen, wahnwitzigen Aspekte des Textes sind – für einen US-amerikanischen Thriller fast obligatorisch – der Bibel oder Apokryphen entnommen, die in den USA einen merkwürdig kanonischen Charakter haben, sodass selbst der ziemlich einzigartige Donald Ray Pollock und Jon Bassoff sich an einer Stelle auf dieselbe Höllenbeschreibung beziehen: “Und wegen dieses Irrtums werdet ihr auf ewig in der Hölle schmoren, da ihr Wurm nicht stirbt und ihr Feuer nicht verlöscht.” (S. 72) Sollte hier ein Autor sich vom anderen hat inspirieren lassen, dann Pollock vom ungleich unbekannteren Bassoff: Corrosion, wie Zerrüttung im Original heißt, erschien ursprünglich 2013; Die himmlische Tafel (orig.: The Heavenly Table) in diesem Jahr. Für beide Bücher gibt es übrigens eine klare Weihnachtsgeschenkempfehlung vom Bad Santa.
Ein wenig schade ist allerdings, dass in der Geschichte weder Handys, Computer noch das Internet eine Rolle spielen, obwohl die Geschichte im 21. Jahrhundert angesiedelt ist. Es wirkt daher ein wenig unpassend, wenn sich der Erzähler über die Faschisten und Kommunisten im Radio ärgert und sich damit lediglich auf die medialen Schlachtfelder des letzten Jahrhunderts bezieht – was okay ist, doch verschenkt Bassoff damit die Chance, zeitgenössischer zu werden. Daneben stört gelegentlich die etwas ungelenke Sprache, die sich zwar durch den unzuverlässigen Erzähler erklärt, der oftmals die Grenze zwischen mündlicher und schriftlicher Sprache unterläuft – was von Bassoff virtuos als Stilmittel benutzt wird – es aber manchmal ein wenig übertreibt, wenn es etwa statt “ich brauche” immer “ich brauch” heißt oder ein paar Mal zu oft mit “oder wie das heißt” die eigene Sprachnot kommentiert wird.1 Kurzum: Zerrüttung ist ein großartiges Buch, eines der besten dieses Jahres – und die kleinen Makel sind lässlich.
Cover © polar Verlag
- Autor: Jon Bassoff
- Titel: Zerrüttung
- Originaltitel: Corrosion
- Übersetzer: Sven Koch
- Verlag: Polar Verlag
- Erschienen: 10/2016
- Einband: Klappbroschur
- Seiten: 252
- ISBN: 978-3-945133-41-5
- Sonstige Informationen:
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Statt eines Nachwortes gibt es ein (sehr spannendes!) Gespräch zwischen Alf Meyer und Jon Bassoff im Anhang des Buches.
Wertung: 13/15 dpt
- Obwohl oder weil ich den englischen Originaltext nicht gelesen habe, kann ich das nicht in ein Verhältnis zur sonst runden und unaufdringlichen Übersetzung Sven Kochs setzen; wenigstens der Titel ‘Corrosion’ wäre meines Erachtens nach näher an dem Wort “Zersetzung” als an “Zerrütung” dran, da “Corrosion” im Englischen zwar auch psychische Vorgänge bezeichnet, aber eher chemische als montangeologische Prozesse beschreibt. [↩]