La casa ist das Haus, das einst Lebensziel und –zentrum eines Mannes war. Es ist das Haus, auf das ein Vater mit einer Vision von einer glücklich am Esstisch, unter einer selbstgebauten Pergola, vereinten Familie sein Leben lang hingearbeitet hat. Das Haus, welches er ein Leben lang gehegt und gepflegt hat. Sein Zufluchtsort und seine Oase. Doch der erste Eindruck von la casa ist ein deprimierender. Dem Leser offenbart sich das Bild eines verwahrlosten, langsam verfallenden Anwesens. Denn der Mann, durch welchen dieses Haus lebte, existiert nicht mehr.
Nacheinander treffen die drei Kinder dieses Mannes im Haus ein. La casa soll ihren alten Glanz zurückerhalten. Mehr noch: das einstige Ferienhaus der Familie soll zum Verkaufsobjekt hergerichtet werden. Retrospektiv fügen sich bei der Arbeit am Haus Erinnerungen der Beteiligten in die Erzählung. Jedes der Kinder hatte seine eigene, besondere Beziehung zum Vater, verbindet Gegenstände und Orte im Haus mit diesem auf seine eigene, besondere Weise. Die Rekonstruktion des Hauses wird so zur Rekonstruktion einer Lebensgeschichte. Gleichzeitig wird beides zur Revelation erfüllter und unerfüllter Lebensträume; zur Revelation von Missverständnissen und Fehleinschätzungen, von Zweifeln, Schuldgefühlen und Reue. Die Symbolik und Bedeutung von bis dahin unergründlich gebliebenen Handlungen des Vaters wird offengelegt, ungelöste Konflikte der Geschwister untereinander werden konfrontiert und schließlich wird sich auf das wahrhaft Wichtige zurückbesinnt.
Die verschiedenen Blickwinkel auf sowie die unterschiedlichen Erinnerungen an die Person und das Leben des Vaters fügen sich zum Mosaik zusammen. Mit seinem Nachbarn verband den Verstorbenen ein ähnliches Schicksal. Dessen Erinnerungen ergänzen die Perspektive der Kinder zu einer völlig neuen Betrachtungsweise des Vaters, seines Lebens und der Bedeutung von Haus und Garten. Hinzu kommt die Perspektive des einzigen Enkels. Fünf Menschen, fünf Beziehungen, davon drei Vater-Kind-Beziehungen, eine noch ganz junge und eine nicht familiäre Beziehung – alle in ihrer Wahrnehmung so unterschiedlich wie die involvierten Menschen selbst. Doch letztlich benötigt jeder von ihnen die Perspektive eines Außenstehenden, um die eigene Beziehung richtig zu betrachten und wertschätzen zu lernen.
Die zuweilen beinahe monochromen, in entsättigten Farbtönen gehaltenen Panels, die mitunter auch über ganze Bildsequenzen wortlos bleiben, zeichnen einen melancholischen Stimmungsraum, der absolut großartig mit der langsamen und ruhigen Erzählweise Paco Rocas und der von Trauer, Schmerz und Nostalgie geprägten Handlung korreliert. Gegenwart und Vergangenheit sind in „La casa“ auch bildlich eng miteinander verknüpft. Sprünge zwischen Gegenwart und Erinnerung sind farblich markiert und auch die Perspektive sowie zeitliche Einordnung in die Retrospektive finden durch die Farben eine Unterscheidung.
Das letzte Bild dieser wirklichkeitsnahen und ergreifenden Graphic Novel ist ein versöhnliches und tieftrauriges zugleich: der große Lebenstraum des Vaters geht schließlich in Erfüllung. Doch ist er selbst nicht mehr da, um ihn mitzuerleben. So trauert der Leser mit der Familie um den Verlust eines Vaters, den er nie kennengelernt hat, trauert um seine zu Lebzeiten unverwirklicht gebliebenen Träume und das nur semiglückliche Ende. Mit diesem bittersüßen Gefühl melancholischer Trauer entlässt Paco Roca den Leser aus „La casa“ in seine eigene Realität. Für Paco Roca ist „La casa“ jedoch selbst ein Stück Realität. Der spanische Comiczeichner verarbeitet in seinem tiefgründigen Werk den Tod seines eigenen Vaters und damit verbunden Gedanken, die auch den Leser zur Reflexion über existenzielle Fragen anregen. Fragen über Lebensgestaltung und Selbstverwirklichung; über Selbst- und Fremdbestimmung; über Zwischenmenschlichkeit und Familienzusammenhalt; über Vaterschaft und Kindschaft; über Zeitlichkeit und Endlichkeit. Diese Themen sind für Paco Roca kein Neuland. Bereits in „Kopf in den Wolken“ setzte er sich anhand der Alzheimer-Krankheit mit dem Thema Erinnerung und dem Älterwerden auseinander. Auch in seiner Graphic Novel „Die Heimatlosen“, in welcher er sich den spanischen Bürgerkriegssoldaten, die im Zweiten Weltkrieg gegen den Nationalsozialismus kämpften, widmet, ist die Rekonstruktion von Vergangenheit, wenn auch in anderem Kontext, ein zentrales Thema. Mit „La casa“ ist Paco Roca nun eine bemerkenswert authentische Neuinszenierung des Stoffes gelungen, die mit andachtsvoller Ruhe aufwartet und zutiefst bewegt.
Cover & Abbildungen © Reprodukt Verlag
- Autor: Paco Roca
- Titel: la casa
- Originaltitel: la casa
- Übersetzer: André Höchemer
- Verlag: Reprodukt
- Erschienen: 10/2016
- Einband: Hardcover
- Seiten: 128
- ISBN: 978-3-95640-104-6
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