Der Titel
„Le Essai“ heißt auf Französisch so viel wie „der Versuch“ oder „die Probe“. Diese Erklärung für alle, die des Französischen nie mächtig waren oder bei denen die paar Brocken Schulfranzösisch schon ein wenig eingerostet sind, ist nicht ganz unwichtig, denn im Folgenden ergibt der zunächst kryptisch anmutende Titel durchaus Sinn.
Der Künstler
Auch wenn „Essai“ in Deutschland der erste erhältliche Band von Nicolas Debon ist, kann Debon andernorts bereits auf eine länger werdende Liste von Veröffentlichungen zurückblicken. Der in Frankreich, genauer Lorraine geborene Künstler studierte in Nancy und wanderte dann nach Kanada aus. 2007 wurde Debon mit dem Horn Book Award für seine Kinderbuchillustrationen ausgezeichnet. Seit 2004 erscheinen auch Comics aus seiner Feder. Schön, dass es mit „Essai“ auch eines davon nach Deutschland geschafft hat.
Gedanken zum „Aussteigertum“
Das Motiv des „Aussteigers“ ist heute so aktuell wie früher. Dabei ringen Geschichten von Menschen, die versucht haben, alles hinter sich zu lassen, den meisten der in der Zivilisation (oder dem, was die Masse so nennt) Zurückgebliebenen neben einem müden Lächeln auch häufig einen Funken Respekt oder sogar Neid ab: „Was wäre, wenn“ oder „Wenn da nur nicht diese oder jene Verpflichtung wäre“. Manch einer schafft es eben, sich von all dem loszusagen. Unter jenen als besonders hervorzuheben sind vielleicht noch solche Personen, die in ihrem Handeln den Anspruch haben, es zur Maxime für alle erheben zu können (Immanuel Kant lässt grüßen) und somit der Gesellschaft einen Vorschlag zu liefern, wie man immer wieder auftretende Probleme, die in der menschlichen Natur zu liegen scheinen, anders angehen kann.
Eine anarchistische Kolonie im Wald der Ardennen
Die vorliegende Graphic Novel beschäftigt sich mit eben einem solchen Versuch: Im Jahr 1903 gründete der Anarchist Fortuné Henry zunächst ganz allein mit seinem Hund und später mit seinen Gefährten eine Kolonie im Wald der Ardennen, deren Licht für eine relativ kurze Zeit sehr hell brannte und viele inspirierte.
Das zu Grunde liegende Gesellschaftskonstrukt für den Gründer war der Kommunismus ohne Beschränkungen durch Klassen oder Titel. Eine Form des Zusammenlebens ohne Währung, in der gemeinsam erwirtschaftete Güter von allen geteilt werden. Viele Versuche, die Idee des Kommunismus in gesellschaftlich anwendbare Konzepte zu übertragen, schlugen Fehl (im Buch werden beispielsweise die Ansätze von Cabet, Fourier, Considerant und Owen genannt). Auch der Anarchismus, dessen Kernstück der Widerstand gegen jede Form von Autorität darstellte, versuchte Anhänger zu gewinnen. Geschah dies insbesondere in Frankreich zunächst mit Gewalt, beschritten die Anhänger jedoch bald einen anderen Kurs. Im 20. Jahrhundert war die Idee geboren, die Gesellschaft mittels harmonischer Gemeinschaften zu verändern.
Blühende Landschaften
Die Geschichte ist so einfach wie faszinierend, und Debon erzählt in einer ruhigen, klaren Bildsprache, wie alles begann. Der Leser erlebt mit, wie Fortuné mit seinem Hund anreist, eine einsame Lichtung betritt und aus dem Nichts heraus beginnt, das Land urbar zu machen und ein Zuhause zu erschaffen. Die Farben geben dabei die mutmaßliche Stimmung des Visionärs wieder und holen den Betrachter tief ins geschehen. Gelbe Felder, braune Erde, finsterer Wald und simple Freuden wie ein treuer Hund und ein tanzender Schmetterling stehen am Anfang. Diesen so einfach Dingen räumt der Künstler viel Platz ein, und so langsam wie die Kolonie entsteht, nimmt auch die Geschichte fahrt auf.
Die ersten Nachbarn entdecken Fortuné, und im Dorf wird gemutmaßt, was dieser seltsame Vogel vorhaben könnte. Richtiggehende Höhepunkte sind die Bilder, in denen Debon den Bau des ersten Hauses auf der Lichtung der Anarchisten bebildert. Wird das Gebäude vorm ersten Schneefall fertig werden? Wird die visionäre Idee dieser wenigen Mutigen an etwas so Schlichtem wie den vier Jahreszeiten scheitern? Vor über 100 Jahren bedeutete so eine Gründung noch eine gänzlich andere Herausforderung als heute. Abgesehen von gesellschaftlichen Konventionen musste gegen Naturgewalten mit einfachen Mitteln standgehalten werden. Das steht zwar nicht im Mittelpunkt von Debons Bildern, findet aber nebenbei Eingang in die Erzählung. Später sollten andere Schwierigkeiten im Mittelpunkt stehen.
Das grösstmögliche Wohl zum Preis des geringstmöglichen Leids
Wo Menschen sind, da „menschelt“ es auch – Davor blieben auch die Visionäre in Aiglemont nicht verschont – und spätestens seit George Orwell ist bekannt, dass auch der Kommunismus Herausforderungen an den menschlichen Charakter stellt. Im weiteren Verlauf der Geschichte stellt der Autor kleinschrittig und liebevoll den Austieg und den Niedergang der Kolonie dar. Die Bilder werden dabei nie langweilig und überzeugen in Farbgegbung und Einfachheit. Es dominieren Pastelltöne, und dank des großen Formats des Bandes kann man sich als Betrachter herrlich in die Bilder verregneter Felder oder halbfertiger Dachstühle kurz vor dem ersten Schneetreiben hineinfühlen.
Ein besonderes Plus bei einer Graphic Novel zu einem Thema, über das vielleicht nicht so viele Leser informiert sind, sind die letzten beiden Doppelseiten. Im Stil einer gut gemachten Infotafel, wie sie heute an der Lichtung der Anarchisten zu finden sein könnte, wird einiges über anarchistische Bewegungen im Allgemeinen und Fortuné im Speziellen erzählt. Auch einige Fotos von eben jener Kolonie sind zu sehen. Das ganze wird im Nachhinein noch einmal lebendiger als zuvor. Den Abschluss bilden schließlich Informationen zu verwendeten Dialektwörtern, Zitaten und Literatur. Für den interessierten Leser eine großartige Anlaufstelle.
Fazit
Für 20 € bekommt der Leser einen besonderen Band aus dem Haus Carlsen, dessen schönes großes Format die großartig kolorierten in ihrer Einfachheit schönen Bilder toll zur Geltung bringt. Die zusätzlichen Informationen helfen die Geschichte im historischen Kontext einzuordnen und gehören unbedingt dazu. Die Umschlaggestaltung wirkt sehr hochwertig, und überhaupt eignet sich der Band auch auf Grund der Covergestaltung hervorragend als Weihnachtsgeschenk für Comicfans, Geschichtsbegeisterte, Neugierige oder vielleicht sogar für Comicmuffel, die so einen Zugang zu dem Medium finden.
Cover © Carlsen
- Autor: Nicolas Debon
- Titel: Essai
- Teil/Band der Reihe: (natürlich nur, falls nötig) X von Y
- Originaltitel: L’Essai
- Übersetzer: Tanja Krämling
- Verlag: Carlsen
- Erschienen: 08/2016
- Einband: Hardcover
- Seiten: 96
- ISBN: 978-3-551-72817-3
- Sonstige Informationen:
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Wertung: 11/15 dpt