„Das Dorf ist eine Versammlung von netten Menschen, die untereinander alle verfeindet sind.“ Diese Worte stellt Marlen Schachinger ihrem Roman Martiniloben voran, und man wird an ein weiteres umfangreiches Buch erinnert, das Beginn des Jahres erschienen ist, Juli Zehs Unterleuten. Doch in Letzterem litten die alten und neuen Dorfbewohner, alle Deutsche, nur aneinander, alten Zwistigkeiten und neuen Grabenkriegen, während Marlen Schachinger die Problematik verschärft, indem sie eine Gruppe „echter“ Fremder ins Spiel bringt, wurden doch im fiktiven Dorf B. eine Handvoll Flüchtlinge untergebracht.
Protagonistin Mona, Philosophieprofessorin, selbst mit ihrem Lebensgefährten Emil erst kürzlich nach B. gezogen, um dem Stress der Großstadt zu entfliehen, kümmert sich zusammen mit einer schrumpfenden Gruppe Freiwilliger um die Flüchtlinge und ist dadurch den Alteingesessenen von Anfang an ein Dorn im Auge, denn das restliche Dorf mauert geschlossen. Um die Drohbriefe, die sie mit zunehmender Häufigkeit erhält, kümmert sie sich nicht, sehr zu Emils Ärgernis, wurde ihr doch bei ihrer ersten Anzeige auf der Polizeiwache zu verstehen gegeben, dass da nichts zu machen sei und sie sich nicht so anstellen solle. Auch ohne Drohbriefe ist ihr Leben komplex genug. Ihre Beziehung steht kurz vor dem Ende, ihre Stelle ist in Gefahr, die Pendelei zur Arbeit schlaucht sie und der Alltag im Dorf ist ein ewiger Spießrutenlauf.
Richtig bergab geht es aber es mit dem Auftauchen einer neuen Nachbarin. Erst fehlt ein Rock, dann ein Hausschlüssel, dann der Kater, und mit Monas Gesundheit geht es steil bergab, sie befürchtet einen Burn-out. Ein Krankenhausaufenthalt macht deutlich, wem ihr Wohlergehen wirklich am Herzen liegt. Überraschend kümmern sich vor allem ein verflossener und ein potentieller Liebhaber um sie, während ihr Lebensgefährte, der offiziell zu Recherchezwecken auf Reise ist, erst spät und dann noch im falschen Moment zurückkehrt. Scheinbare Ruhe kehrt für Mona erst wieder ein, als sie mit der jungen Syrerin Salma und deren sechsjähriger Tochter Rana eine WG gründet.
Doch das ganze Dorf bereitet sich aktiv auf Martiniloben vor, ein Fest, das viele Städter ins Dorf bringt, die verköstigt und unterhalten werden wollen, und weil Mona sich nicht an den allgemeinen Dekorationsbemühungen beteiligt, ist sie ein weiteres Mal außen vor. Zu Martiniloben gerät die Situation dann völlig außer Kontrolle.
Marlen Schachinger erzählt gekonnt quasi nebenbei die Geschichte eines Gutmenschen zu Beginn der Flüchtlingskrise, wobei sie die zukünftigen Entwicklungen, sowohl auf dem Land als auch in der Stadt, als Dystopie skizziert. Die Anfeindungen, die Mona über sich ergehen lassen muss, dürften vielen, die sich im vergangenen Jahr aktiv für Flüchtlinge eingesetzt haben, bekannt vorkommen. Die Vorurteile und gesellschaftlichen Entwicklungen vor allem in einem dörflichen Umfeld, werden ohne erhobenen Zeigefinger von allen Seiten beleuchtet. Dass die Protagonistin neben ihrem ehrenamtlichen Engagement auch noch eine ereignisreiche Phase ihres Lebens durchmacht, bietet einen Spannungsbogen, der den Leser jenseits der Flüchtlingsproblematik bei der Stange hält.
Die Geschichte wird kunstvoll, von zwei Pro- und zwei Epilogen umrahmt, chronologisch erzählt und ab und an von fiktiven Essays der Protagonistin unterbrochen – oder besser: durch diese ergänzt. Außerdem wird ein Thriller eingewoben, den sie in diesem Zeitraum liest. Vieles ist wirklich sehr detailliert ausgeführt und manches Spielerei, und doch langweilt Martiniloben keine Sekunde, sodass man das Buch nur schwer wieder aus der Hand legen kann, wenn man einmal mit der Lektüre begonnen hat.
Cover © esdras700/Septime Verlag
- Autor: Marlen Schachinger
- Titel: Martiniloben
- Verlag: Septime Verlag
- Erschienen: 2016
- Einband: Gebunden mit Schutzumschlag
- Seiten: 504
- ISBN: 978-3-902711-58-8
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